Das Mittelalter
1. Abschnitt:
Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse
In den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt werden die Verhältnisse der Ottrauer Bauern im Großen und Ganzen unverändert geblieben sein. Im Mittelalter trat jedoch eine Veränderung ein, die ebenso groß und folgenreich war, wie einst der Fortschritt vom Hirten- zum Bauerntum. Während nämlich die urzeitlichen Ottrauer freie Leute gewesen waren, die nur ihren Göttern und selbsterwählten Anführern Gehorsam schuldeten, versanken sie im Anfang des Mittelalters in Unfreiheit und Abhängigkeit.
Freilich ging es ihnen nicht allein so, sondern sie konnten sich mit unzähligen Schicksalsgenossen trösten. Die Zeit von 500-900 nach Christi Geburt, die Zeit des Frankenreiches, ist ja die Zeit des allgemeinen Untergangs der Volksfreiheit und der Ausbildung des Lehnswesens. In jener Zeit regierte noch nicht das Geld, sondern der Grundbesitz die Welt. Je mehr Land einer hatte, umso mehr Ansehen und Macht hatte er auch. Daher drängte jeder, der es konnte, nach Vermehrung seines Besitzes an Grund und Boden. Die fränkischen Könige erklärten einfach den Wald und herrenloses Land für Krongut. Die weltlichen Großen ahmten dies Beispiel, so gut sie konnten, nach. Aber auch die Klöster suchten möglichst viel Land in die Hand zu bekommen. Hin und her entstanden in den Dörfern oder auch für sich allein gelegen große Königs-, Herren- und Klosterhöfe. Die hatten natürlich zu ihrem landwirtschaftlichen Großbetriebe viele Arbeitskräfte nötig und konnten nur gedeihen durch die Hilfe von leibeigenen Hofleuten und von Bauern, die ihnen zu Frondiensten und Abgaben verpflichtet waren. Oft mögen diese mächtigen Grundherren die freien Bauern mit Gewalt in ihre Botmäßigkeit gebracht haben. Oft aber gaben die Bauern sich auch freiwillig zu eigen. Sie übertrugen ihre freien Hufengüter einem weltlichen Großen und empfingen sie von diesem als dienst- und abgabepflichtige Lehnsgüter zurück, um sich durch diese Hingabe ihrer Freiheit den Schutz des Großen im Krieg und Frieden zu erkaufen. Oder sie taten dasselbe gegenüber einem Kloster, weil sie durch solche Bereicherung der Kirche sich Gottes Wohlgefallen und die ewige Seligkeit zu verdienen glaubten.
Diese Entwicklung ist eines Teils gewiss zu beklagen. Es ist sicherlich kein erfreulicher Zustand, wenn in einem Volke der freie Mittelstand verschwindet und sich über einer Masse von Unfreien und Abhängigen eine kleine Anzahl mächtiger Herren erhebt, die dem Volke mit der wirtschaftlichen Selbstständigkeit auch seine staatlichen Rechte nimmt oder verkümmert. Auf der anderen Seite muss man aber auch zugeben, dass diese Entwicklung notwendig und von segensreichen Folgen begleitet war. Wie der gewaltige Aufschwung der heutigen Industrie nur dadurch möglich wurde, dass der Großbetrieb der Fabriken den Kleinbetrieb des Handwerks verdrängte, so konnte der landwirtschaftliche Fortschritt Deutschlands im Mittelalter nur dadurch erzielt werden, dass die großen Grundherren an die Stelle der kleinen Bauern traten. Was den Bauern nicht möglich gewesen wäre, z. B. die Rodung des deutschen Urwalds in größerem Maßstabe, das vollbrachten nun die Grundherren mit ihren zahlreichen Arbeitskräften. Wie ein gründlicher Sachkenner sagt, konnte die Klasse der Grundherren allein die Deutschen, nächst der Kirche, zu höherer Lebenshaltung führen. Die großen Grundherrschaften, auch die geistlichen Grundbesitzer, haben durch ihre Überlegenheit auf wirtschaftlichem Gebiete den Fortschritt ermöglicht. Sie schufen eine planmäßigere und einheitlichere Produktion und eine Organisation der Arbeit, und der Betrieb gewann durch die größeren Mittel an Intensität und Vervollkommnung.1
In den Strom dieser Entwicklung wurden, wie schon gesagt, auch die Ottrauer Bauern hineingezogen. Sie gerieten unter die Grundherrschaft des Klosters Hersfeld. Dies war im Jahre 769 von Lullus, einem Gehilfen des Bonifatius, gegründet und blühte so rasch auf, dass es nach einem Menschenalter schon den ungeheuren Grundbesitz von 1107 Hufen und 675 Hofreiten (Mansen) sein eigen nannte. Diese Nachricht verdanken wir einem bald nach 800 aufgestellten Verzeichnis der Hersfelder Besitzungen, dem sogenannten Breviarium des heiligen Lullus. Daraus erfahren wir auch, dass das Kloster diesen riesigen Besitz teils der Freigiebigkeit Karls des Großen, teils der Mildtätigkeit von „freien Leuten“ verdankte. Unter den Gütern nun, die „der selige Erzbischof Lullus erwarb und die ihm freie Leute übergaben als ihr Almosen an das Kloster Hersfeld“ befinden sich auch 18 Hufen und 18 Hofreiten, die zum Teil in Khrichheim (Kirchheim), zum Teil in Liutgiseshusun, zum Teil in Otraho (Ottrau) und zum Teil in Grintafo (einem ausgegangenem Dorf bei Ottrau an der Grenf) gelegen waren. Endlich ergibt sich aus jenem Güterverzeichnis, dass die Gruppe der Hersfelder Erwerbungen, zu der Ottrau gehört, schon vor dem Jahre 775 durch Lullus erworben war.2
Also um das Jahr 770 fasste das Kloster Hersfeld Fuß in Ottrau, indem damals „freie Leute“, d. h. doch wohl bis dahin freie Hufenbauern, ihm ihre Güter übergaben. Anfangs mögen diese den Verlust ihrer Unabhängigkeit kaum empfunden haben. „Die Kirche“, sagt ein Geschichtsforscher, „wußte die Uebergabe der Güter in die mildeste Form zu kleiden; sie beließ den sich Unterwerfenden ihren Besitz unverändert gegen geringen Zins meist auf Lebenszeit, sodaß erst den Nachkommen der Ernst der Lage fühlbar wurde.“3 Zunächst können auch nicht alle, sondern nur einige der Ottrauer Hufenbauern unter die Hersfelder Grundherrschaft gekommen sein, denn jene 18 Hufen und Hofreiten lagen nicht alle in Ottrau, sondern verteilten sich auf 4 Dörfer. Freilich, wo einem Grundherrn einmal der kleine Finger gereicht war, da nahm er bald die ganze Hand. Und so hat es gewiss nicht lange gedauert, bis der Abt von Hersfeld Herr über ganz Ottrau wurde.
Nach einer alten lateinischen Urkunde wäre das schon im Jahre 782 geschehen. Sie trägt das Datum
„Ingelheim, den 31. August 782“,
und ihr Anfang lautet in deutscher Übersetzung:
„Wir Karl, von Gottes Gnaden König der Franken und Langobarden und Schutzherr der Römer, tun hiermit kund der Größe aller unsrer Getreuen und dem Eifer der kommenden Geschlechter, daß wir um des Namens Gottes und unseres Seelenheiles willen dem Kloster Hersfeld, das von unserem Freunde Lullus in der buchonischen Waldwüste zu Ehren der Apostel Simon und Thaddäus erbaut ist, ein Dorf namens Ottraha schenken samt allem Zubehör an Ländereien, Häusern, Leibeignen, Waldungen, Feldern, Wiesen, Weideplätzen, Gewässern und Wasserläufen.“4
Leider wird diese Urkunde, auf die Ottrau sonst ihres hohen Alters wegen stolz sein könnte, von den Fachgelehrten mit gewichtigen Gründen für eine Fälschung erklärt. Man hat nachgewiesen, dass Karl der Große sich am 31. August 782 gar nicht in Ingelheim aufgehalten hat. Man weist auch darauf hin, dass die Fassung der Urkunde von der aller echten Urkunden Karls des Großen abweiche, und dass ihr Inhalt nicht im Einklang mit dem Brevarium des Lullus stehe. Vielleicht ist sie erst 300 Jahre später auf Veranlassung eines Hersfelder Abtes verfasst und Karl dem Großen untergeschoben, um das Anrecht des Klosters auf Ottrau gegen Angriffe sicherzustellen. Solche krummen Wege ist man in jener Zeit ja oft gewandelt. Trotzdem wird sich der Inhalt der Urkunde nicht weit von der Wahrheit entfernen. Im späteren Mittelalter wenigstens ist Ottrau ganz in dem Umfange, den die Urkunde behauptet, Hersfelder Besitz gewesen.5
Wie das Kloster Hersfeld seinen Ottrauer Besitz verwaltet und verwertet hat, darüber können wir für die ersten Jahrhunderte nach 770 nur Vermutungen haben. Das große Gut, das vor Zeiten der Dorf- und Hundertschaftsrichter innehaben mochte, mag nun ein klösterlicher Meier für Rechnung des Klosters bewirtschaftet haben. Vielleicht verwaltete er im Namen des Abtes auch die niedere Gerichtsbarkeit. Das noch heute Kammermannsgrund genannte Waldstück scheint ein Abt seinem Kammermann geschenkt zu haben. Das war ein angesehener klösterlicher Würdenträger, sozusagen der Finanzminister des Abtes. Die Einkünfte aus dem „Mönchwalde“ mögen den gewöhnlichen Mönchen zugutegekommen sein. Die Hufengüter wird man ihren früheren Eigentümern gegen Dienste und Abgaben belassen haben. Vielleicht sind durch das Kloster nun auch noch weitere Güter, die sogen. Kodengüter, angelegt worden. Die Kodengüter sind jedenfalls weit jünger als die Hufengüter, denn ihre Ländereinen liegen in der Regel nicht in den alten Gewannen, sondern weiter vom Dorf entfernt und große Flächen bildend. Die Neuanlage wäre dann geschehen, um die Einnahmen des Klosters zu erhöhen; denn die Kodenbauern mussten natürlich auch ihre Abgaben entrichten. Diese bestanden vermutlich in Getreide, Federvieh und einem geringen Geldzins.
Möglicherweise haben sich die Ottrauer unter der klösterlichen Herrschaft und Verwaltung ganz wohl gefühlt. Die von der Kirche abhängigen Zinsbauern waren nach einem Geschichtsschreiber meist viel günstiger daran als die der weltlichen Herren. Zwischen dem Abt und seinen Zinsleuten und Hörigen herrschte meist ein gutes patriarchalisches Verhältnis, das auf weltlichem Besitz oft viel schlechter war.6
Bei dieser direkten Verwaltung und Verwertung seines Ottrauer Besitzes ist das Kloster Hersfeld aber nicht für immer geblieben. „Die Selbstverwaltung der Güter, wie sie bei den älteren Klöstern ursprünglich überall üblich war, hörte allmählich auf und machte der Leihe Platz.“7 So sah sich auch das Kloster Hersfeld zu einem gewissen Zeitpunkte veranlasst, seine Ottrauer Besitzungen an adlige Herren als Lehen zu vergeben. Den Beweggrund kann man sich leicht denken: Wahrscheinlich hat die dem Kloster obliegende Heerespflicht dazu geführt. Sein Abt war wie ein weltlicher Fürst verpflichtet, dem Kaiser Kriegsdienste zu leisten. Wie konnte er dieser Pflicht aber nachkommen, da er und seine Mönche als geistliche Personen das Waffenhandwerk nicht ausüben durften? Er verlieh Klostergut an Männer von Adel, die dafür dann anstelle des Klosters den Heeresdienst zu leisten hatten.
Allein, so leicht der Beweggrund zu erraten ist, so schwer lässt sich genau sagen, wann das Kloster Hersfeld dazu übergegangen ist, seine Ottrauer Güter zu verleihen, und an welche adlige Familie oder Familien Ottrau zuerst als Hersfeldisches Lehen gekommen ist. Vielleicht klingen die Namen einiger alter Hersfelder Vasallen noch in etlichen Ortsbezeichnungen nach; ich meine im Flurnamen Gerlachsdorf (am Alsfelder Weg), im Waldnamen Sebbel und im Dorfnamen Ropperhausen. Zu Gerlachsdorf muss einst ein Mann namens Gerlach eine Siedlung angelegt haben. Der Sebbel (1380 Sibel) trägt offenbar den Namen eines ehemaligen Besitzers namens Sigbald8,und Ropperhausen (1232, 1295 und 1336: Raporgehusen, 1358: Ruppirgehusin), scheint von einer Frau namens Ratburg oder Hruodburg gegründet zu sein. Möglicherweise waren jener Gerlach und Sigbald Lehnsmänner des Klosters Hersfeld und Ratburg (Hruodburg) die Witwe oder Tochter eines solchen. Gewiss ist das aber keineswegs. Die Träger dieser drei Namen können ebenso gut auch schon in weit älterer Zeit gelebt haben, als Ottrau noch gar nicht unter Hersfelder Grundherrschaft stand.
Auf den festen Boden urkundlich bezeugter Tatsachen gelangen wir erst im 13. Jahrhundert. Damals war Ottrau als Hersfeldisches Lehen im Besitz eines Rittergeschlechts, das sich nach seinem Wohnsitze „von Ottera“ nannte. Ein Sohn dieser Familie, Volpert von Ottera, brachte es zu hohen Ehren im Dienste des deutschen Ordens, jenes geistlichen Ritterordens, der 1190 zu Akka9 in Palästina zwecks der Verpflegung kranker Pilger und der Verteidigung des heiligen Landes gestiftet war. 1235 war Volpert von Ottera noch einfacher „Bruder“ im Hause des deutschen Ordens zu Marburg. 1240 finden wir daselbst in der Stellung eines „Syndikus oder Prokurators“. 1250 ist er gar der Landkomthur der Ballei Hessen, d. h. das Oberhaupt aller Häuser, die der Orden in Hessen besaß. In welchem Ansehen dieser Ottrauer Ritter stand, geht auch daraus noch hervor, dass er 1250 die Herzogin Sophie von Brabant, die Tochter der heiligen Elisabeth und Mutter Heinrichs I. von Hessen, auf die Wartburg begleitete. Wahrscheinlich war er 1252-1257 als Volpert von Marburg Bischofsvogt von Samland und Kurland.10 Wenn man diese glänzende Laufbahn Volperts bedenkt und erwägt, dass in den deutschen Orden nur Männer aufgenommen wurden, die vier ritterliche Ahnen zählten, so müssen die Herren von Ottera ein altangesehenes Rittergeschlecht gewesen sein. Vielleicht haben sie auch die Burg in Ottrau und den Burgscheller in Kleinropperhausen erbaut; jene, eine Wasserburg,11 als ihren Wohnsitz und diesen, einen Wachturm am Eingang des Ottertales, damit er etwaigen Feinden den Weg zur Burg in Ottrau verriegele (Burgscheller gleich Burgriegel). Mit dem 13. Jahrhundert wurde es ja üblich, dass jeder Ritter sein Gebiet mit einer Feste versah.
Außer Volpert ist uns kein Glied der Familie von Ottera bekannt. Überhaupt wissen wir sonst nichts von ihr. Um das Jahr 1300 scheint sie ausgestorben zu sein. Wenigstens finden wir von da ab ein anderes Rittergeschlecht in unserem Dorfe: die Herren von Rückershausen. Diese hatten, wie schon der Name verrät, ihren Stammsitz in Rückershausen bei Neukirchen. Auch sie waren ein altes Geschlecht, aus welchem Arnold von Rückershausen bereits 1250 und 1254 urkundlich erwähnt wird. Wie sie durch den Abt von Hersfeld mit Ottrau belehnt waren, so trugen sie von der Abtei Fulda das Gericht Röllshausen zu Lehen.
Der älteste uns erhalten gebliebene Lehnsbrief, durch den ein Herr von Rückershausen mit Ottrau belehnt wird, stammt freilich erst vom 5. April 1451. Laut seiner wird Henne von Rückershausen mit dem Gericht zu Ottra und mit Asterode belehnt.12 Aber dieser Henne ist deshalb nicht etwa der erste seines Stammes, dem die Belehnung mit Ottrau widerfuhr. Hatten doch, wie es in dem Briefe ausdrücklich heißt, schon seine Eltern dies Lehen auf ihn gebracht. Die Familie muss damals schon an die 150 Jahre mit Ottrau belehnt gewesen sein. Dass sie im Jahre 1355 schon in unserem Dorfe war, erhellt aus einer Urkunde vom 17. Juli dieses Jahres, in der die Brüder Johann und Helwig von Rückershausen dem Grafen Johann von Ziegenhain und seinem Sohne Gottfried geloben, ihren Teil des Gerichts zu Ottra keinem anderen Herrn verkaufen oder versetzen zu wollen. Ja, wenn wir in einer Urkunde vom 1. Mai 1302 lesen, wie sich neben anderen Rittern auch die Gebrüder Helwig und Ditbern von Rückershausen dem Kloster Immichenhain gegenüber für den Verkauf von Gütern in den Dörfern Ottera und Runderode (die Wüstung Romrod zwischen Ottrau und Weißenborn) verbürgen, dann scheint aller Zweifel ausgeschlossen, dass die Familie von Rückershausen schon um 1300 in Ottrau ansässig war.
An Hersfelder Lehnsbriefen, wodurch die Herren von Rückershausen mit Ottrau belehnt werden, sind aus dem Mittelalter meines Wissens noch vier erhalten, nämlich außer dem schon erwähnten vom 5. April 1451 noch drei weitere vom 18. Dezember 1460, vom 1. Juni 1484 und vom 3. Mai 1498. Um den Lesern einen Begriff von Form und Inhalt einer derartigen Urkunde zu verschaffen, teile ich hier den Lehnsbrief vom 18. Dezember 1460 mit. Durch ihn belehnt der Abt von Hersfeld den Henne von Rückershausen und seine drei Söhne mit dem Zentgericht zu Ottrau, welches darin als Eigentum des Klosters Johannisberg, eines im Jahre 1013 gegründeten Hersfelder Tochterklosters, erscheint. Das Schriftstück ist in mittelhochdeutscher Sprache abgefasst und lautet ins Neuhochdeutsche übersetzt folgendermaßen:
„Wir Ludwig, von Gottes Gnaden Abt des Stifts zu Hersfeld, Provisor und Vormund des Klosters auf St. Johannisberg bei Hersfeld gelegen, bekennen in diesem offenen Briefe für uns und unsere Nachkommen und Kloster vorgenannt, daß wir dem festen Henne von Rückershausen und Helwig, Ludwig und Kilian, seinen Söhnen, unseren lieben Getreuen, geliehen haben und gegenwärtig leihen in Kraft dieses Briefes unseres Klosters St. Johannisbergs Zentgericht zu Ottera mit seinem Zubehör und die Güter dazu gehörend mit ihrem Zubehör zu ihrer aller vier Leibes- und Lebenstagen und ihrer jegliches Leibes- und Lebenstagen besonders nach dem Tode des anderen; also daß sie sich ehegenannten Zentgerichts und der Güter darin und Zubehör vorgenannt gebrauchen und genießen sollen ihr Lebetage ganz aus nach allem ihrem besten Nutzen und Wohlgefallen ohne unsere und eines jeglichen von unsertwegen Hindernis, Wehren und Bedrängnis. Doch also, daß die ehegenannten, unsere lieben Getreuen, das Zentgericht zu Ottera jährlich, dieweil sie leiben und leben, halten und bestellen sollen mit Kosten und jeglichem, als das von alters Herkommen ist, ohne unser und unseres Klosters St. Johannisberg Schaden und Zutun, ohne Gefährde. Wenn auch die genannten Henne, Helwig, Ludwig und Kilian von Rückershausen, unsere lieben Getreuen, alle von Todes wegen abgegangen sind (was Gott nach seinem Willen verhalte!), so soll dann das genannte Zentgericht und die Güter dazu- und dabeigehörend unserem Kloster St. Johannisberg erledigt und los sein, und dieser Brief auch tot und kraftlos sein, alle Gefährde hierin ausgesetzt. Zu Urkunde dessen haben wir Ludwig, von Gottes Gnaden Abt vorgenannt, unser Insiegel festlich an diesen Brief tun hängen. – Gegeben im Jahre des Herrn 1460 auf Mittwoch nächst vor St Thomas Tag.“13
Aus diesen Urkunden erfahren wir mancherlei Beachtenswertes. Einmal, dass in der Familie von Rückershausen der Vorname Helwig sehr gebräuchlich war und als ein wertvolles Erbstück von Geschlecht zu Geschlecht überliefert wurde. Schon der erste Ottrauer von Rückeshausen, dem wir 1302 begegneten, trug diesen Namen, und der letzte, 1576 gestorben, hieß auch noch einmal so. Ohne Zweifel ist nach einem der ersten dieser vielen Helwige der zwischen Ottrau und Immichenhain gelegene Waldort „Helwigsholz“ (schon 1350 und 1358: Helwigsbusch und Helwigsholz) benannt.
Ein zweiter bemerkenswerter Umstand ist der, dass wir Ottrau fast nie im Besitz eines einzelnen Herrn von Rückershausen finden, sondern beinah‘ immer in gemeinsamem Besitze mehrerer Herren dieses Namens. 1302 finden wir hier die Gebrüder Helwig und Ditbern. 1355 begegnen uns die Brüder Johann und Helwig; aber sie haben nur einen Teil des Gerichts zu Ottrau und reden von ihren Ganerben, d. h. Miterben, die gleich ihnen am Besitze Ottraus beteiligt waren. Zwar wird 1451 Henne allein mit dem Gericht Ottrau belehnt, aber 1460 empfangen Henne und seine drei Söhne Ottrau als Lehen. 1484 bekennt Ludwig, dass er Ottrau für sich und seine Vettern als Lehen empfangen habe, und 1498 bekennt Johann, dass der Abt zu Hersfeld ihn als den ältesten von Rückershausen von seinet-, seines Bruders und ihrer Vettern wegen mit dem Gericht zu Ottrau samt aller Zubehör zu rechten Mannlehen belehnt habe.
Ottrau war danach eine sogenannte Ganerbschaft, d. h. ein gemeinsamer Besitz der Familie von Rückershausen. Anfangs mögen mehrere Brüder daran teil gehabt haben; mit der Zeit aber wurden daraus mehrere Linien des Geschlechts, die sich in den Besitz unseres Dorfes teilten. Eine dieser Linien scheint in der Burg zu Ottrau ihren ständigen Wohnsitz gehabt zu haben. So wohnte hier um das Jahr 1400 ein Henne von Rückershausen. Berichtet uns doch eine Urkunde vom 22. Mai 1396, dass Henne und Dipern (= Ditbern ) von Rückershausen und Metze, Hennes Ehefrau, 3 Gulden Jahresgülte aus ihrem Gut und Vorwerk zu Röllshausen an ihren Neffen Henne von Rückershausen, gesessen zu Ottra, und an Eise, dessen Ehefrau, für 38 Gulden verkauft haben.
Wichtiger als diese Aufschlüsse über die Familienverhältnisse der Herren von Rückershausen ist uns aber, was wir aus unseren Urkunden über Ottrau selbst erfahren. Wir haben vorhin einige Male gesagt, die Herren von Rückershausen und ihre Vorgänger seien mit Ottrau belehnt worden. Der Ausdruck ist nicht ganz genau. Strenggenommen wurden sie mit dem Zentgericht, d. h. Hundertschaftsgericht belehnt, das seinen Sitz im Dorfe Ottrau hatte. Die Verwaltung dieses Gerichts, also ein Amt, wurde ihnen durch den Hersfelder Abt als Lehen übertragen. Die Güter in Ottrau und in dem Gerichtsbezirk überhaupt wurden ihnen als Zubehör des Gerichts, sozusagen als Besoldung des Richteramtes, verliehen. So müssen wir sagen, wenn wir uns streng an den Wortlaut der Lehnsbriefe halten In Wirklichkeit wird es freilich etwas anders gewesen sein. Die Herren von Rückershausen werden sich in Ottrau nicht als Beamte, sondern als Herren gefühlt haben. Das Amt wird ihnen Nebensache und die Güter werden ihnen die Hauptsache gewesen sein. Wenigstens führte, wie uns der kundige Geschichtsschreiber Landau versichert, der Gang der Dinge überall zu dieser Betrachtungsweise.14
Immerhin: Ottrau war, wie schon in der Urzeit, so auch im Mittelalter noch der Sitz eines Zent- oder Hundertschaftgerichtes. Freilich war der Bezirk dieses Gerichtes im Mittelalter weit kleiner als der Bezirk der urzeitlichen Hundertschaft Ottrau. Denn während diese sich von Salmshausen bis Hersfeld erstreckt hatte, gehörten zu dem späteren Zentgericht Ottrau nur die drei noch heute bestehenden Dörfer Ottrau, Ropperhausen und Berfa, sowie die drei ausgegangenen Ortschaften Romrod, Gerlachsdorf und Sachsenhausen. Leider sind uns über die Einrichtung und Verwaltung dieses Gerichts aus mittelalterlicher Zeit keinerlei Nachrichten erhalten geblieben. So wissen wir z. B. gar nichts darüber, wo das Gericht seine Sitzungen abzuhalten pflegte, ob (wie später) in einem Hause, oder ob (wie vielfach üblich) unter freiem Himmel im Schatten einer Linde oder Eiche. Wir können daher auch nur eine ganz allgemein gehaltene Beschreibung davon geben. An der Spitze eines solchen Zentgerichts stand der sogenannte Zentgraf. Das war hier also seit etwa 1300 ein Herr von Rückershausen. Er wird sich aber in der Regel bei den Gerichtsverhandlungen durch einen von ihm angestellten Beamten, den Schultheiß, haben vertreten lassen. Der Zentgraf hatte sein Urteil nach Rat und Gutbefinden der Gerichtschöffen zu sprechen. Es waren ihrer meist 12, und man wird sie hier aus den angesehensten Bauern der Gerichtsdörfer genommen haben. Die Zentgerichte hatten anfangs nur Streitigkeiten über bewegliches Eigentum zu schlichten und kleinere Vergehen abzuurteilen. Vom 12. Jahrhundert an erhielten sie aber auch die Gerichtsbarkeit über unbewegliches Eigentum und das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden. Für die Verwaltung seines Amtes konnte der Zentgraf von den Leuten seines Gerichtssprengels freie Bewirtung verlangen. Außerdem waren ihm die Leute Dienste, Abgaben an Getreide, Vieh, Geld und anderem mehr schuldig. Die Ottrauer Zentgrafen bezogen für ihre Amtstätigkeiten alle die Leistungen und Abgaben, welche die Bauern vorher dem Kloster Hersfeld hatten entrichten müssen.15
Obwohl nun seit etwa 1300 die Herren von Rückershausen mit dem Gericht zu Ottrau und allen dazu gehörigen Gütern belehnt waren, so zeigen uns doch mehrere Urkunden, dass im ausgehenden Mittelalter noch einige andere adlige Familien im Gericht Ottrau begütert waren. Das braucht uns nicht Wunder zu nehmen. Es gehörten eben noch nicht alle Güter in Ottrau zur Besoldung des Richteramtes, sondern einige hatte sich das Kloster Hersfeld zu anderweitiger Ausleihung vorbehalten. Die Familien, um die es sich hier handelt, sind die von Wasmuthshausen, von Kruspis, von Gleimenhain und von Waldfogel. Unter dem 5. Februar 1295 bekennt Gertrud, die Witwe Brunos von Wasmuthshausen, dass sie mit Bewilligung ihrer Söhne Ortwin und Volpert und ihrer Tochter Adelheid der Kirche in Immichenhain und den Nonnen daselbst 18 Pfennige Einkünfte aus dem Dorfe Ropperhausen eigentümlich verkauft habe. Nach Urkunden vom 1. Mai 1302 und vom 23. Januar 1316 hat Antonia, die Witwe Ditmars von Kruspis, dem Kloster zu Immichenhain Güter in den Dörfern Ottrau und Romrod (bei Ottrau) verkauft. Ein Kaufbrief vom 21. April 1388 besagt, dass die Gebrüder Johann und Ditmar von Gleimenhain, genannt von dem Forste, dem Kloster Immichenhain 2 Pfund Heller Geldes aus ihren Gütern zu Ottrau gelegen und jährlich eine Gans für 20 Gulden wiederkäuflich verkauft haben. 1449 bekennen Henne Waldfogel und sein Eidam Henne von Lüder sowie Katharina, des ersteren Tochter und des letzteren eheliche Hausfrau, dass sie alle ihre Erbe und Güter im Dorfe, Wüstenung und Dorfmark zu Gerlachsdorf (einem ausgegangenen Dorfe in der Ottrauer Flur), nämlich vier Hufen Landes, die Waldfogels Güter geheißen, mit allen Zugehörungen dem Hermann Molner, einem Bürger zu Treysa, und Elsen, dessen ehelicher Hausfrau für 65 rheinische Gulden an Solde nach 8-jähriger Verfließung wiederkäuflich verkauft haben. Die Verkäufer haben aber von ihrem Wiederkaufsrecht keinen Gebrauch gemacht. Denn nach einem Kaufbriefe vom 25. Mai 1463 haben Hermann Molner und seine Frau jene vier Güter zu Gerlachsdorf dem Kloster Immichenhain um vier Malter Früchte und vier Fastnachtshühner jährlicher Gülte zu ihrer beider Leben erb- und eigentümlich verkauft.
Übrigens finden wir, dass außer den genannten Ritterfamilien auch das 1173 gegründete Kloster Immichenhain neben den Herren von Rückershausen im Bezirk des Gerichtes Ottrau begütert war. Wie wir vorhin sehen konnten, erwarb es seine Güter zumeist durch Kauf. So kaufte das Kloster außer den vorhin schon erwähnten Gütern in Ottrau auch das sogenannte Kalkburners (d. h. Kalkbrenners) Gut. Unter dem 29. Dezember 1351 bekennen nämlich Volprat Kalkburnes und Hille, dessen eheliche Wirtin, sowie beider Kinder und Erben Johann, Kunne, Alheid, Dilo, Hermann, Deymar und Agnes, dass sie dem Kloster ihr Gut zu Ottera, das Kalkburners Gut heißet, um 3 Pfund Heller verkauft hätten. Über Ankäufe des Klosters in Ropperhausen berichten zwei Urkunden vom 26. Mai 1350 und vom 18. September 1358. Nach der ersteren haben Theodor, genannt von Querm, Schöffe in Alsfeld, und Bingela, dessen Ehefrau, dem Kloster ihre Wiese, zwischen dem Gelwißenberg (das heute sogenannte „Wäldchen“, wo gelber und weißer Sand zutage steht) und dem Helwigsbusche gelegen, die besagtem Kloster 2 Schillinge Pfennige jährlich gezinset, für 20 Pfund Heller eigentümlich verkauft. Und nach der letzteren verkaufen Heinrich, genannt von Ropperhausen, Bürger zu Neukirchen, und Metze, seine eheliche Wirtin, sowie beider Kinder Ihle, Heintze, Henne, Hedde, Elze, Metze und Katrine dem Kloster ihre Wiese zwischen dem Helwigsholze und dem Gelwyssenberge, zu ihrem Gute, dem sogenannten Baumgartengute, gehörig und zu Ropperhausen gelegen, um 28½ Schilling Thurnosse.
Besonders viele Ankäufe scheint das Kloster in dem ihm benachbarten, aber im Gericht Ottrau gelegenen Dorfe Sachsenhausen gemacht zu haben. Am 22. Juli 1329 kaufte es von Johannes von Eype und seiner Ehefrau Hedwigis eine halbe Hufe, im Dorfe Sachsenhausen gelegen, mit aller ihrer Zugehörung für 9 Pfund Wetterauer Pfennige zu Erbrecht. 1350 erwarb es laut Bekenntnis des Bruders Hermann von Romrod, Komthurs von Grebenau, einige Güter des Johanniterordens in Sachsenhausen, Schrecksbach und Berfa gegen Hingabe von vier anderen Gütern. Unter dem 3. Januar 1365 bekennen Wilhelm Schuschelers seligen Söhne, nämlich Konrad Rüppe und seine Frau Ezine, Henne Ore und seine Frau Kunne sowie Günther Ore und seine Frau Bingele, dass sie ihr Gut zu Sachsenhausen um 50 Schillinge Thurnosse Frau Kunnen von Geirwinshein, einer Nonne des Klosters Immichenhain, verkauft haben. Am 1. Februar 1366 endlich bekennen Heneman Wampe und Ezize, dessen eheliche Wirtin, dass sie das 8te Teil der sogenannten Wilhelmshufe in Sachsenhausen mit aller Zugehörung um 6 Schillinge Thornosse und für 3 Thornoß derselben Nonne verkauft haben. Wurden die beiden letztgenannten Güter auch zunächst von der Nonne Kunne von Geirwinshein gekauft, so sind sie doch wahrscheinlich bald in den Besitz des Klosters selbst übergegangen, da sich die Kaufbriefe sonst schwerlich unter den Klosterurkunden befinden würden.
Das Kloster Immichenhain verwertete seine im Gericht Ottrau gelegenen Güter auf die im Mittelalter allgemein beliebte Art: Es gab sie als Lehen aus und nahm dafür Geldzins und Naturalleistungen in Empfang. So bezeugt eine Urkunde vom 18. Dezember 1306, dass das Kloster etliche seiner Kirche gehörende Güter in Sachsenhausen seiner Kirche zugehörigen Leuten, nämlich einen gewissen Friedrich und anderen seinen Nachbarn daselbst, zu Erbrecht verliehen habe. Dafür mussten die Belehnten unter anderem jährlich zwei Fastnachtshühner und in der Erntezeit Käse an die Klosterkirche liefern. Wenn die belehnten Männer oder ihre Erben starben, dann sollten die Hinterbliebenen vom Vieh das sogenannte Besthaupt, d. h. das beste Stück, und von den Gütern 5 Schillinge Pfennige Alsfelder Münze entrichten. Wenn aber ihre Frauen mit Tod abgingen, dann sollte ihr bestes Kleid an die Klosterkirche gegeben werden. Dieselbe Urkunde berichtet auch, dass das Kloster seine zu Sachsenhausen gelegene Mühle (wahrscheinlich die heute zu Ropperhausen gehörige Schneidmühle) einem Mann namens Peter auf gleiche Weise geliehen habe. In einer Urkunde vom Jahre 1380 bekennen die Gebrüder Hermann und Johann von Rückershausen, dass ihnen das Kloster Immichenhain zwei Huben zu Ropperhausen gegen einen jährlichen Zins von 10 Schillingen Pfennigen Alsfelder Währung, einem Malter Käse und zwei Fastnachtshühnern geliehen habe. Eine andere vorteilhafte Verwertung der Klostergüter war der Verkauf auf Lebenszeit des Käufers. So lesen wir in einer Urkunde vom 25 Juli 1336, dass das Kloster sein Gut zu Ropperhausen und die Mühle zum Frülebig (in der Nähe von Alsfeld) Gertruden, Heinrichs Tochter von Weißenborn, ihrer Klosterjungfrau, auf lebenslang dergestalt verkauft habe, dass das Gut nach Gertruds Tode wieder an das Kloster zurückfallen solle.
Bisher richteten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Herrschenden im mittelalterlichen Gericht Ottrau und betrachteten die Dinge vom Standpunkt der Ritter und des Immichenhainer Klosters. Vielleicht hören aber die meisten Leser noch lieber etwas über die abhängigen Leute jener Zeit, d. h. über den Bauernstand und sein Wohl oder Wehe.
Leider sind uns aus dem Mittelalter nur wenige hiesige Bauernfamilien mit Namen bekannt. In Ottrau selbst lernen wir nur die Familie Kalkburner kennen, die um 1350 das Kalkburners Gut innehatte. Kalkburner heißt soviel wie Kalkbrenner. Der Besitzer dieses Bauerngutes mag im heutigen Kalkfelde Kalksteine gegraben und sie zu Bau- und Düngekalk gebrannt haben. Als einen wohlhabenden Ropperhäuser Bauern dürfen wir wohl den Neukirchener Bürger Heinrich von Ropperhausen ansehen, den wir 1358 als Besitzer des Baumgartengutes in Ropperhausen erwähnt fanden. Er mochte vom Dorf in die Stadt gezogen sein, um deren Schutz und Annehmlichkeiten zu genießen, und mochte sein Gut einem Pächter oder Verwalter anvertraut haben. Die meisten bäuerlichen Besitzer lernen wir aus den Immichenhainer Klosterurkunden in Sachsenhausen kennen. Dort finden wir im 14. Jahrhundert den Bauer Friedrich, den Müller Petrus, Wilhelm Schuscheler und seine Söhne, Henemann Wampe und Rorich von Sachsenhausen.
Beachten wir zunächst einmal die Vornamen dieser Bauersleute. Während heute in Ottrau für Männer und Frauen mit Vorliebe Doppelnamen gebraucht werden, wie Johann Heinrich oder Anna Katharina, finden wir die Bauern des 14. Jahrhunderts durchweg Einzelnamen tragen. Darunter sind die biblisch-christlichen in der Minderzahl. Wir finden unter den Männern einen Johann, wofür es auch zweimal Henne und einmal Henemann heißt, sowie einen Petrus und unter den Frauen je eine Elze (Elisabeth), Katharina und Agnes. Aber davon abgesehen begegnen wir lauter altdeutschen Vornamen. Die Männer heißen Dilo oder Tyle, Deymar (d. h. Ditmar), Friedrich, Günther, Heinrich oder Heintze, Hermann, Konrad, Rorich (Roderich), Volprat (Volpert) und Wilhelm. Die Frauen heißen Alheid (Adelheid), Demut, Hedde (Hedwig), Hille (Hilde), Kunne (Kunigunde), Metze (Mathilde). Die weiblichen Vornamen Bingele und Ezine oder Ezize kann ich nicht deuten. Die Männernamen Dilo, Heinrich und Henne sowie die Frauennamen Kunne und Metze, die unter den wenigen überlieferten Namen je zweimal vorkommen, scheinen besonders beliebt gewesen zu sein.
Ebenso beachtenswert wie die Vornamen sind auch die Zunamen jener Bauersleute. Die deutschen Bauern hatten bis etwa zum Jahre 1200 nur Vornamen. Von da ab legten sie sich allmählich auch Zunamen bei. Doch kam es in der einen Gegend später dazu als in der anderen. In unserer Gegend scheinen die Zunamen im 14. Jahrhundert eben erst nach und nach aufgekommen zu sein. 1306 begegneten uns zwei Sachsenhäuser Bauern, Friedrich und Petrus, noch ohne jeden Zunamen. Eine Hufe daselbst hieß noch 1366 die Wilhelmshufe, war also nach einem Besitzer, der einfach Wilhelm hieß, benannt. Einen Anfang zur Zunamengebung bedeutet es, wenn der in Neukirchen wohnhafte Besitzer des Baumgartengutes 1358 nach seinem Herkunftsorte als „Heinrich, genannt von Ropperhausen“ bezeichnet wird. Legte sich dieser den Namen seines Heimatortes als Zunamen bei, so nannten andere sich nach ihrem Berufe. So hieß der Ottrauer Bauer Volprat, weil er Kalk brannte, Volprat Kalkburner (1351). Ein Mann, der in einer Urkunde von 1340 noch einfach Wilhelm heißt, erscheint in einer Urkunde von 1365 als Wilhelm Schuscheler, was wohl soviel wie Schüßler, d. h. Schüsselmacher oder Töpfer bedeutet. Dass der Name Schuscheler aber darum noch längst kein fester Familienname war, erhellt daraus, dass die Söhne des Mannes sich wieder ganz anders nannten, nämlich (Konrad) Rüppe, (Henne) und (Günther) Ore.
Welches waren nun die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, in denen die Ottrauer Bauern des späten Mittelalters lebten? Sie sind im Vorigen schon mehrfach berührt worden, denn die Rechte der Herren waren die Pflichten der Bauern. Seitdem die Abtei Hersfeld das Gericht Ottrau an Ritterfamilien wie die von Ottera und von Rückershausen zu Lehen gegeben hatte, waren die Ottrauer aus klösterlichen zu ritterlichen Untertanen geworden. Möglicherweise haben sie diesen Übergang aus der milderen geistlichen Hand in die härtere weltliche anfangs unangenehm empfunden. Waren ihnen ihre Ländereien früher unmittelbar von der Abtei Hersfeld geliehen gewesen, so jetzt von den ritterlichen Gerichtsherren. An diese hatten sie daher von da an auch die Dienste und Abgaben zu leisten, die sie ehemals dem Kloster Hersfeld schuldig gewesen waren.
Urkundliche Belege über die einzelnen Leistungen der Ottrauer an die Gerichtsherren sind uns erst aus der Neuzeit erhalten. Da diese Verpflichtungen sich aber Jahrhunderte lang fast völlig gleich geblieben sind, so dürfen wir uns nach den neuzeitlichen Akten ein Bild der mittelalterlichen Verhältnisse machen. Die Güter waren nicht Eigentum der Bauern, sondern waren ihnen von den Gerichtsherren nur geliehen. Es genügte also nicht der Tod des Vaters, um den Sohn in den Besitz des Gutes zu bringen, sondern jeder junge Bauer musste das vom Vater bewirtschaftete Gut gegen ein bestimmtes Lehnsgeld aufs Neue von den Herren geliehen bekommen. Und nicht nur das. Der Bauer musste auch, wenn der Lehnsherr starb, sein Gut von dessen Sohn oder Rechtsnachfolger gegen dasselbe Lehnsgeld in Empfang nehmen.
Neben diesen unregelmäßigen Abgaben waren dann mannigfache regelmäßige, d. h. jährlich wiederkehrende, Leistungen zu erstatten. Diese bestanden teils in Geld, teils in Naturalien, teils in Frondiensten. Die Grundbesitzer hatten einen jährlichen Grundzins zu zahlen sowie ein gewisses Quantum Korn und Hafer zu liefern. Von jeder Feuerstätte war zu Fastnacht ein sogenanntes Rauchhuhn und von gewissen Gärten alljährlich ein Hahn abzugeben. Von allem später gerodeten Lande musste der sogenannte Rottzehnte, d. h. jede elfte Garbe, entrichtet werden. Die Schafzüchter hatten auf je 30 Stück ihrer Herde einen Tritthammel zu liefern. Einzelne Güter waren auch zur jährlichen Lieferung einer Gans oder von Wachs verpflichtet. Feldnamen, wie Honigäcker und Salzmetzenrain, bezeugen, dass auch jährliche Abgaben an Honig und einer Metze Salz vorgekommen sind. Endlich hatten die Fuhrwerksbesitzer jedes Jahr gewisse Fahr- oder Spanndienste und die übrigen Dorfbewohner gewisse Hand- und Botendienste zu verrichten.
Die oben mitgeteilte Urkunde von 1306 bezeugte uns, dass das Kloster Immichenhain von Sachsenhäuser Bauern auch das sogenannte Besthaupt und Bestgewand verlangte, d. h. dass es beim Tode des Bauern dessen bestes Stück Vieh und beim Tode der Bäuerin deren bestes Kleid von den Hinterbliebenen forderte. Diese gewiss besonders schmerzlich und drückend empfundene Abgabe wird in den aus der Neuzeit stammenden Ottrauer Abgabenverzeichnissen keinmal erwähnt. Sie ist also entweder in Ottrau nie üblich gewesen oder, was wahrscheinlicher ist, schon am Ende des Mittelalters abgelöst worden.
Diese Abgaben vergönnen uns nebenbei einen Blick in den landwirtschaftlichen Betrieb des mittelalterlichen Ottraus, da die Bauersleute gewiss nur solche Naturalien ablieferten, als sie selber zogen. Dann müssen aber Korn und Hafer ihre wichtigsten und anfangs wohl einzigen Getreidearten gewesen sein, und an Haustieren müssen sie Pferde, Rindvieh, Schafe, Hühner, Gänse und Bienen gehalten haben. Vielleicht darf man um des Kalkburnersgutes willen annehmen, dass die Ottrauer Bauern schon im Mittelalter die Kalkdüngung angewendet haben.
Nach allem, was wir bisher gehört haben, wird der Ottrauer Bauer von heute etwas wie Mitleid mit seinen mittelalterlichen Vorfahren empfinden. Und gewiss waren diese auch in mehr als einem Stück übler daran als er. Ihre Güter gehörten ihnen nicht als Eigentum, sondern waren ihnen von den Gerichtsherren nur geliehen. Durch Frondienste und mancherlei Abgaben wurden sie beständig an ihre völlige Abhängigkeit von den ritterlichen Machthabern erinnert. Und diese Herren, die von der Burg in Ottrau aus ihre bäuerlichen Untertanen regierten, werden nicht immer gütig und gelinde, sondern zuweilen auch hart und streng gewesen sein. Wie anderwärts werden auch in Ottrau die Bauern es an ihren Feldern und Höfen haben büßen müssen, wenn die allezeit fehdelustigen Ritter ihre Kleinkriege miteinander führten. Noch heute ist an der Westseite der Kirche die Stelle zu sehen, wo die Ritter vor dem Auszug zum Kampfe ihre Schwerter schliffen. Die Kirche und der hochgelegene, starkummauerte Kirchhof mögen manchmal als Zufluchtsstätte und heiß verteidigte Festung beim Einfall feindlicher Scharen gedient haben. „Die armen Leute“ wurden die Bauern im Mittelalter und auch nachher noch von den höheren Ständen halb mitleidig, halb verächtlich genannt. Und nach heutigen Begriffen waren sie auch wirklich in mehr als einer Hinsicht arme Leute.
Aber wir dürfen uns ihre Lage auch nicht schlimmer ausmalen, als sie war. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, sagt der Volksmund, er gewöhnt sich schließlich an alles. So werden die alten Ottrauer ihre Abhängigkeit von den Rittern auch bald gewohnt gewesen sein und sie wie andere unvermeidliche Dinge unschwer ertragen haben. Gewiss konnte es den Bauer niederdrücken, wenn er bedachte, dass sein Hof samt den Ländereien nicht sein eigen, sondern ihm nur geliehen war. Aber ob er solchen Gedanken viel Raum gegeben hat? In der Wirklichkeit ließen sich die Dinge auch viel harmloser und günstiger an, als sie vom Standpunkt des strengen Rechtes aussehen mochten. Denn gerade so gut wie sich das Gericht Ottrau in der Familie von Rückershausen forterbte, erbten auch die einzelnen Ottrauer Güter in den Bauernfamilien fort. Die Erblichkeit der Lehen war von Anfang an Gewohnheit gewesen und wurde mit der Zeit zu einem Recht. Nur bei ganz schweren Verfehlungen konnte einem Bauer sein Gut gerichtlich abgesprochen werden. Starb der Inhaber, so ging das Gut auf den ältesten Sohn über. Dieser musste zwar den Lehnsherren um neue Verleihung bitten. Sie konnte ihm aber nicht verweigert werden. Die Ottrauer Bauern durften also schon im Mittelalter ihre Güter fast wie ihr Eigentum ansehen, und die tatsächlichen Verhältnisse wichen in diesem Stück nicht allzu viel von den heutigen ab.
Natürlich hatten die Bauern, als sie die urzeitliche Freiheit mit der mittelalterlichen Hörigkeit vertauschten, auch viel von ihren politischen Rechten verloren. Aber ganz ohne solche haben wir uns auch die mittelalterlichen Bauern nicht zu denken. Sie saßen auch in Ottrau als Schöffen im Zent- oder Hundertschaftsgericht. Sie durften auch in gewissen Grenzen die Angelegenheiten der Dorfgemeinde verwalten.
Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der mittelalterlichen Ottrauer brauchen wir uns nicht dürftig und gedrückt vorzustellen. Es sind uns darüber zwar keine direkten Nachrichten erhalten, aber wir haben eine Tatsache vor Augen, aus der wir einen günstigen Schluss ziehen dürfen. Das ist die in Ottrau wenigstens bei den Frauen noch heute übliche schmucke Schwälmertracht. Sie mag, wie man das jetzt von allen noch erhaltenen Volkstrachten annimmt, in der Zeit vom 14. bis 16. Jahrhundert entstanden sein. Sie ist, wie allbekannt, nicht billig, sondern kostbar. Das Bauerngeschlecht, das sie einst übernommen hat, kann also gewiss nicht in kümmerlichen Verhältnissen gelebt, sondern muss sich des Wohlstandes erfreut haben. Und das braucht uns nicht Wunder zu nehmen. Haben wir doch manche Beweise dafür, dass die Zeit von 1200 bis 1500 trotz vieler Missstände eine Blütezeit des deutschen Bauernstandes war.
Daher dürfen wir endlich überzeugt sein, dass auch schon im Mittelalter neben der sauren Arbeit das Vergnügen seine Stätte im Leben des Ottrauer Bauern gehabt hat. Die Kirmes sowohl wie die Spinnstuben sind ohne Zweifel Erbstücke aus jener Zeit. Das erste urkundliche Zeugnis über die Kirmes in der Ottrauer Gegend stammt zwar erst aus dem Jahr 1610. Aber dass ihre Feier viel älter ist, lehrt schon der Name. Kirmes ist entstanden aus Kirchmesse und bedeutet eine zur Einweihung einer Kirche gelesene Messe. Das Wort stammt also samt der Sache aus der Zeit, da hier im Gottesdienst noch die katholische Messe gehalten wurde, aus der Zeit vor der Reformation.
1 WW: Steinhausen, Geschichte der deutschen Kultur; 1904; S.65
2 WW: Wengk; Urkundenbuch zum 2. Bd. der „Hess.Landesgeschichte“; S. 17
3 WW: Meitzen, a.O. II; S. 287
4 WW: Wengk, a. O. S. 12
5 WW: siehe Abel; Jahrbücher des fränk. Reichs unter Karl d. Gr.I; S. 332 Anm. 5. Sickel; Acta regum et imperatorum Karolinum II, 416 f. Haas in den „Fuldaer Geschichtsblättern“ 1912 S. 116 f
6 WW: Steinhausen, a.O. S. 61
7 WW: Arnold, Ansiedlungen und Wanderungen usw. S. 573
8 HM: Der Name könnte auch von Sibille hergeleitet sein: Sibyllen waren im Altertum weissagende Frauen
9 HM: Akka, arabisch für Akkon, eine Hafenstadt im Nordosten des heutigen Israels
10 WW: Die Nachrichten über Volpert findet man bei Wyß, Urkundenbuch der Deutschordens-Ballei Hessen
11 HM: Westlich von Ottrau wurde die Otter in den sogenannten Wallwiesen gestaut um zusätzliches Wasser zu haben, das bei drohender Gefahr den Burggraben auffüllen konnte
12 WW: Diese und die folgenden Urkunden dieses Abschnittes sind mit einer Ausnahme ungedruckte Urkunden des Königl.Staatsarchivs zu Marburg. Leider kann ich sie nicht genauer zitieren, als im Text geschehen, da ich bei der Durchsicht versäumt habe, mir die Aktenbezeichnung zu notieren, und jetzt das Versäumte krankheitshalberd nicht nachholen kann
13 WW: Wenck, a.O. S. 177 f
14 WW: Landau, Das Salgut. S. 195 und 211
15 WW: Siehe Kopp, Ausführl. Nachricht von der älteren u. neueren Verfassung der geistl. und Zivil-Gerichte usw.; 1769; Bd. 1, § 222ff