Das Mittelalter
2. Abschnitt:
Die kirchlichen Verhältnisse
Im vorigen Abschnitte versuchten wir, uns ein Bild von den politischen und wirtschaftlichen Zuständen Ottraus im Mittelalter zu zeichnen. Wir lernten ein Geschlecht kennen, das der Freiheit, der Selbstständigkeit und der Volksrechte der Urzeit fast ganz verlustig gegangen war, das sich aber trotz alles Druckes zu Wohlstand emporarbeitete und sich seines Lebens freute.
Der Mensch lebt aber nicht vom Brot allein. Die irdischen Güter und Aufgaben können die Menschenseele nicht ganz ausfüllen und befriedigen. In allen Zeiten haben sich die Menschen auch dem Überirdischen zugewandt und Gott gesucht. So auch unsere Vorfahren. In der Urzeit suchten sie Gott auf den Wegen des altdeutschen Heidentums. Das Mittelalter aber führte sie auf einen ganz neuen Weg. Es brachte ihre Bekehrung zum Christentum und ihre Angliederung an die römisch-katholische Kirche.
Sehen wir hier vom Untergang der alten Volksfreiheit und der Aufrichtung des Lehnswesens ab, so hat unser Dorf im Mittelalter kein Ereignis weiter erlebt, das so groß und folgenreich gewesen wäre, wie seine Bekehrung zum Christentum. Wie gern möchten wir über diesen hochwichtigen Vorgang Genaueres erfahren! Wir würden gern wissen, welcher Glaubensbote in Ottrau das Wort vom Kreuze zuerst verkündigt hat, und in welchem Jahre der Übertritt der Ottrauer vom Heidentum zum Christentum geschehen ist. Auch das wüssten wir gern, ob ihnen dieser entscheidende Schritt schwer oder leicht geworden ist, und ob ihn alle Einwohner des Dorfes auf einmal getan haben oder der eine nach dem anderen.
Leider lässt sich unsere Wissbegierde nicht so reichlich befriedigen, wie wir wohl möchten. Gibt es doch keine alte schriftliche Überlieferung von der Einführung des Christentums in Ottrau. Aber während die schriftliche Überlieferung schweigt, hat die mündliche Überlieferung, die Sage, Großes zu vermelden. Wie zuweilen Glockengeläute aus weiter Ferne her über Wald und Feld an unser Ohr dringt, so hat sich durch zwölf Jahrhunderte von einem Geschlecht zum anderen die Sage fortgepflanzt, dass Winfrid Bonifatius, der berühmte Apostel der Deutschen, der Apostel der Ottrauer insbesonderheit sei. Auf der Bonifatiuswiese am Sebbelwalde soll er im Schatten einer Eiche, der im Jahre 1885 leider gefällten Bonifatiuseiche1,gepredigt haben. Auch soll er zwei Kapellen gebaut haben; die eine nördlich vom Bechtelsberge an der Stelle der heutigen Ottrauer Kirche und die andere südlich vom Bechtelsberge zwischen Berfa und Lingelbach, wo heute noch ein Waldort „die Kapelle“ genannt wird. Da diese Wirksamkeit des Bonifatius in Ottrau von keinem seiner Zeitgenossen beschrieben wird, sondern uns nur auf dem unsicheren Wege der mündlichen Überlieferung zugekommen ist, so wäre es möglich, dass sie in späterer Zeit zum größeren Ruhme Ottraus erdichtet wäre. Diese Dichtung wäre nicht die einzige ihrer Art. Bonifatius hat sicherlich nicht unter all‘ den Eichen gepredigt, an all‘ den Quellen und Brunnen gerastet und getrunken, und alle die Kapellen und Kirchen erbaut, womit ihn sinnige Sagen in Verbindung bringen.
Trotzdem möchte die Ottrauer Bonifatius-Überlieferung Glauben verdienen, wie sie ja auch von einem berühmten hessischen Geschichtsschreiber einfach als eine geschichtliche Tatsache behandelt wird.2 Das Vorhandensein einer Bonifatiuswiese und Bonifatiuseiche in der Ottrauer Flur beweist für sich allein freilich nicht viel. Aber ein anderer Umstand lässt jene Überlieferung durchaus glaubwürdig erscheinen. Ottrau war ja, wie wir im ersten Teil unserer Ortsgeschichte sahen, vor alters der angesehene Hauptort einer großen Hundertschaft. Hier war eine Gerichtsstätte. Der nahe Bechtelsberg war das fleißig besuchte Heiligtum der Göttin Berchta. Ein Ort von so hervorragender politischer und religiöser Bedeutung war wohl wert, von Bonifatius selbst aufgesucht zu werden. Wie er nach Geismar ging, um die dem Donar geweihte Eiche zu fällen, so mochte es ihn auch nach Ottrau ziehen, um durch sein persönliches Auftreten dem Berchtadienste ein Ende zu machen. Diese Absicht deutet auch die Sage dadurch an, dass sie ihn nördlich und südlich vom Bechtelsberge eine christliche Kapelle erbauen lässt. Diese Kapellen sollten die Bevölkerung an sich und den christlichen Gottesdienst ziehen und vom Bechtelsberge samt seiner Berchtaverehrung abbringen. So hatte einst auch König Jerobeamim Norden und Süden seines Landes je ein Heiligtum angelegt, um seine Untertanen vom Besuch des Tempels in Jerusalem abzulenken.
Alles in allem genommen ist es also sehr wahrscheinlich, dass Bonifatius um 730 in Ottrau war, hier predigte und den Bau eines christlichen Gotteshauses, des ersten der Gegend, veranlasste. Weiteres und Einzelnes über seine hiesige Wirksamkeit wissen wir freilich nicht. Doch möge der Dichtung erlaubt sein, auszudenken und auszumalen, was die Geschichte mit Stillschweigen übergeht!
Bonifatius‘ Predigt in Ottrau
Auf weitem Wiesenplane,
Umhegt vom Eichenwald,
Welch‘ hörbegier‘ge Menge?
Was drängt da Jung und Alt?
Das ist das Volk von Ottra,
Von Berfa, Gerhardshain;
Und auch aus weit‘rer Ferne
Mag es gekommen sein.
Und wer ist‘s, dem sie lauschen,
Der Mann schwarz von Gewand?
S‘ist Winfrid Bonifatius
Vom fernen Angelnland.
Was er im Hessengaue
Gepredigt rings voll Kraft,
Das will er heute künden
Vor Ottras Hundertschaft.
„Ihr trotz‘gen Hessenmänner
Mit eurem Löwenmark,
Ihr beugt euch nur den Mächt‘gen
Und dient nur dem, was stark.
Darum wählt ihr euch zum Fürsten
Den stärksten Recken nur,
Der sieghaft und gewaltig
Durchs Heer der Feinde fuhr.
Ist es denn da nicht sinnlos,
Aller Vernunft ein Hohn,
Daß ihr solch‘ schwache Wesen
Setzt auf den Himmelsthron?
Ihr habt es wohl vernommen,
Wie ich die Eiche schlug
Zu Geismar, und wie Donar
Hilflos die Schmach ertrug.
Und ihr gar ehret göttlich
Berchta, ein schwaches Weib,
Das scheu im Schoß der Erde
Verbirgt den Schattenleib!
O, schämt euch solcher Götter,
Die Teufelsspuk nur sind,
Und dient dem wahren Gotte
Und Christo, seinem Kind.
Soll ich ihn näher künden
Den Gott, euch unbekannt?
Er schuf dies All und hält es
Noch in allmächtger Hand.
Ihm wachsen diese Eichen,
Zu ihm der Adler schreit,
Ihm strahlt die Himmelssonne:
Sein Reich ist weit, ist weit.
Und mit der Allmacht paaret
Sich seine Heiligkeit,
Er haßt, was groß euch dünket:
List, Rache, Kampf und Streit.
Zur Pflugschar will er wandeln
Das Schwert vom Blute rot,
Ihr sollt die Feinde lieben,
Den segnen, der euch droht.
So hat ers selbst gehalten:
Der fluchverfallnen Welt
Gab er den Eingebornen
Zum Sühn- und Lösegeld.
Und wer an den nun glaubet,
Der kommt nicht ins Gericht;
Wenn er von hinnen scheidet,
Geht er zum Himmelslicht.“
Als Winfrid ausgeredet,
Sah stumm das Volk sich an,
Unwissend, ob ihm Wahrheit
Ob Lüge sprach der Mann.
Doch als zuletzt gebrochen
Des schweren Schweigens Bann,
Da hob ein Durcheinander
Von Für und Wider an.
Da sprach manch‘ biedrer Alter:
„Es sei dem, wie ihm sei,
Den Göttern meiner Väter
Bleib‘ bis zum Tod ich treu.“
Doch mancher sprach dawider:
„Der Prediger hat recht,
Was jetzt sein Mund gesprochen,
Hat oft mein Herz bewegt.“
Bis endlich sich Herr Thankmar
Von Ottraha erhob,
Des Dorfes edler Richter,
Ein Mann von hohem Lob:
„Liebwerte Volksgenossen!
Wir haben viel gehört.
Drum sei auch mir zum Schlusse
Ein offenes Wort gewährt!
Es ist ein schweres Opfer,
Zu dem uns Winfrid drängt:
Den alten Glauben lassen,
Woran so vieles hängt!
Auch mutet an dem neuen
Mich manches seltsam an,
Daß ich es noch nicht deuten
Geschweige loben kann.
Doch eins muß ich bekennen,
Der Wahrheit selbst zum Ruhm:
Es wird die Welt gehören
Bald ganz dem Christentum.
Was waren einst die Franken?
Ein Volk dem unsern gleich.
Doch seit sie Christen wurden,
Wuchs riesengroß ihr Reich.
Auch uns liegt ihre Herrschaft
Schon lang‘ auf dem Genick,
Und von den alten Rechten
Entschwindet Stück um Stück.
Das scheint mir zu beweisen:
Die Götterwelt ist tot!
Die Macht, der Sieg, die Zukunft
Gehört dem Christengott.
Drum lasst uns den erwählen,
Dann wird auch uns zuteil
Des Christengottes Hilfe,
Des Christenglaubens Heil.“
„Wir wollen Christen werden!“
Erscholl es allerseits. –
Und seit dem Tag erhebt sich
In Ottrau Christi Kreuz.
Die Annahme des römisch-katholischen Christentums hatte eine gewaltige Umwälzung im Denken und Fühlen der Ottrauer zur Folge. Sie mussten nun verabscheuen, was ihnen bis dahin heilig und ehrwürdig gewesen war. Frau Berchta, die segenspendende Göttin, wurde ihnen nun zur arglistigen Teufelin, und der Eingang ihres unterirdischen Schlosses wurde nun zu einer unheimlichen Stätte, zur Hexenkaute. Die feierlichen Wallfahrten, welche die Frauen der Umgebung bis dahin am 1. Mai zum heiligen Bechtelsberge unternommen haben mochten, hörten nun auf. Doch lebt ein Zerrbild davon bis heute in der Sage fort.
Am 1. Mai, so sagt man, wird in der Mitternacht großes Gastgebot und Tanz der Hexen bei der Hexenkaute gehalten. Nach 12 Uhr kommen sie durch die Luft mit Gebrause zum Berge herangezogen. Die einen reiten auf stumpfen Besen, die andern auf schwarzen Hähnen. Alle tragen ein langes schwarzes Kleid mit einem Strohgürtel und auf dem Kopf eine Haube, unter welcher ein langer Haarzopf herabfällt. Sie versammeln sich um ihren Meister, den Teufel. Um ihn führen sie einen wilden Tanz auf, sie singen, lärmen und treiben allerlei Unfug. Wer eine Viertelstunde zu spät erscheint oder beim Tanz einen Fehltritt tut, der bekommt eine Anzahl Besenhiebe. Dabei stimmen alle Gäste ein höllisches Gelächter an. Endlich sind sie vom Tanze so ermattet, dass sie zur Erde niedersinken. Ihr Meister hat ihnen unterdes auf dem Hexenaltar ein Mahl bereitet, das sie nun verzehren. Was davon übrig bleibt, wird auf die Rückfahrt eingepackt. Zuletzt wünschen sich die Teilnehmer ein fröhliches Wiedersehen im nächsten Jahre, und dann verschwindet wieder allmählich der Hexenspuk.3
Mit diesem Hexentreiben hängt ein alter Walpurgisbrauch zusammen. Nach einer Kirchenrechnung wurden vor 200 Jahren4 einige Ottrauer Burschen mit Geld gestraft, weil sie auf Walpurgisabend, war ein Sonntagabend, mit Geißelnplatzen einem fremden Gott einen Dienst verrichtet hätten. Mit dieser seltsamen Abgötterei ist ohne Zweifel die heute noch bestehende Sitte gemeint, dass die jungen Burschen am Abend des 1. Mai durch das Dorf gehen und ein gewaltiges Peitschenknallen vollführen, um dadurch die Hexen zu vertreiben. Jene Strafe hat also den alten Brauch nicht ausrotten können. Vielleicht war er anfangs wirklich als eine bäuerliche Huldigung für Berchta gemeint und wurde erst in christlicher Zeit in eine Hexenaustreibung umgedeutet.
Noch heute leben also Reste des urzeitlichen Heidentums in Sage und Sitte weiter. Wie fest muss es dann in den Herzen der Vorfahren gewurzelt haben! Die kurze Predigtwirksamkeit des Bonifatius konnte unmöglich genügen, die heidnischen Vorstellungen und Bräuche auszurotten und christliche einzupflanzen. Dieser Wandel konnte nur durch eine unaufhörliche und geordnete kirchliche Arbeit allmählich herbeigeführt werden. In dieser Erkenntnis mag Bonifatius in Ottrau eine Kirche erbaut und einen oder mehrere christliche Priester angestellt habe.
Die Ottrauer Kirche und ihre Geistlichen waren nun aber nicht nur für das Dorf, sondern wahrscheinlich für die ganze alte Hundertschaft Ottrau bestimmt. Das Kirchspiel erstreckte sich also von Salmshausen bis Hersfeld. Das waren weite Kirchwege für die Gemeindeglieder und weite Wege für die Geistlichen, wenn einmal ein Kranker das Abendmahl begehrte! Da sich nun nach Jesu Worte die Verkündiger des Evangeliums vom Evangelium nähren sollen, so mussten Mittel für den Unterhalt der Geistlichen ausgeworfen werden. Man stattete die Pfarrei Ottrau daher mit Grundbesitz aus. Heute besitzt sie an Äckern, Wiesen und Gärten etwa 80 Acker. Früher hat sie etwas mehr besessen, sodass sie ursprünglich mit etwa 90 Acker begabt sein wird, was etwa drei urzeitlichen Hufen gleichkam. Außerdem mussten die Bewohner des weiten Kirchspiels für die Bedürfnisse der Kirche und ihrer Diener den Zehnten entrichten.
Die Zehntpflicht und den Umfang des Zehntgebietes oder Kirchspiels lernen wir aus jener angezweifelten Urkunde Karls des Großen vom 31. August 782 kennen, von der wir oben schon den Anfang mitgeteilt haben. Nachdem König Karl dem Kloster das Dorf Ottrau geschenkt hat, fährt er fort:
„Auch wollen wir, daß die Mutterkirche in eben diesem Dorfe jenem vorgenannten Kloster überlassen sei mit folgendem Zehnten: von dem Orte an, der Siggenbrucca heißt (die spätere Seckenbrücke bei Salmshausen) bis nach Steinaha (Steina) und von da bis zum Wilzesberg (dem Wildsberg beiGrebenhagen), weiter über den Abhang des Berges hin bis nach Hunengesrot (einem ausgegangenen Ort), von da nach Salzesberg (Salzberg) bis an den Fluß Geysaha (Geis), über den Fluß hinüber bis an die Fulda, von da flußaufwärts zur Jazaha (Jossa), zur Suarzaha (Schwarz), von da hinab nach Leimenbrunnen (dem Leimelbach) und zur Ypha (Eifa), weiter abwärts an die Sualmanaha (Schwalm), von da quer hinüber an die Brücke Screggesbahe (Schrecksbach), von da nach Holunbahe und Diethwinesrodt, von da hinauf nach Wipfingestein (vielleicht Wipperstein bei Zella) und nach Salmaneshusun (Salmshausen), von da hinab nach dem vorhin genannten Fluß Sualmanaha (Schwalm), von da wieder nach Siggenbruccun (der bei Salmhausen über die Schwalm führendenSeckenbrücke).“5Da diese Urkunde vom 31. August 782 mit Recht als unecht, d. h. viel später verfasst, gilt, so ist natürlich auch diese Grenzbeschreibung des Ottrauer Kirchspiels und Zehntenbezirks nicht ohne weiteres glaubwürdig. Indes haben wir Grund, anzunehmen, dass sie die Verhältnisse zur Zeit des Bonifatius und um das Jahr 782 richtig beschreibt. Damals werden wirklich die Grenzen des Kirchspiels Ottrau und der alten Hundertschaft Ottrau zusammengefallen sein. Etwa im 10. Jahrhundert ist dann aber ein Wandel eingetreten und der Ottrauer Kirche ein großer Teil ihres oben beschriebenen Zehntenbezirks verloren gegangen. Um jene Zeit wurde nämlich der 812 eingeweihten Kirche zu Schlitz ein Zehntengebiet zugewiesen, das tief in die Hundertschaft Ottrau hinübergriff und das ursprüngliche Kirchspiel Ottrau zerriss.
Die nördliche Grenze des Schlitzer Zehntbezirkes lief nämlich vom Lintenbach (Lingelbach) nach dem Dornbach (wahrscheinlich demSchwarzwasser), von da hinauf zur Eiche, von da an den Ort, welcher Grintafa (Grenf) heißt, von da nach Scurbach (Schorbach), von da nach Kristenstein (wohl einem Felsen bei Christerode), von da zum Urbach, von da mitten auf den Wildsberg, von da hinauf nach Rechberc, von da wiederum nach Suarcenbrunnen (Schwarzenborn), von da nach Huchelheim, von da nach Unewanesrein, von da zum Selebach, von da zur Owala (Aula), von da zum Wisebach, von da zum Stein bei Ybera (IbraerKuppe), von da zum Breitenbach, von da zum Fehenholce, von da nach Griceneih, von da zum Landolfesberc, von da nach Otenebach (Ottersbach?), von da zur Jazaha (Jossa). Wenn auch einiges an diesem Grenzzuge unsicher bleibt, so steht doch fest, dass Lingelbach, Görzhain und die heutigen Kirchspiele Oberaula, Schwarzenborn und Breitenbach danach nicht mehr zum Zehntbezirk der Ottrauer, sondern zu dem der SchlitzerKirche gehörten.6
Aber die Pfarrei Ottrau sollte im Laufe der Zeit noch mehr Verluste erleiden. Es musste je länger je mehr fühlbar werden, dass die eine Kirche zu Ottrau für ein so großes Gebiet nicht ausreichte. Die nach Ottrau eingepfarrten Dörfer erhielten mehr und mehr eigene Kirchen mit eigenen Priestern und bekamen dann wohl auch ihren Anteil an dem anfangs nach Ottrau allein gelieferten Zehnten. Wenn man der Urkunde vom 31. August 782 auch hierin glauben dürfte, so hätte diese Entwicklung schon vor 782 ihren Anfang genommen. Nennt sie doch die Ottrauer Kirche eine Mutterkirche, womit das Bestehen von Filial- oder Tochterkirchen neben ihr behauptet ist.
Allerdings blieben diese aus dem ursprünglichen Kirchspiel Ottrau herausgeschnittenen Tochtergemeinden und ihre Kirchen das ganze Mittelalter hindurch in einer gewissen Verbindung mit der Ottrauer Kirche und in einer gewissen Abhängigkeit von ihr. Der erste Pfarrer zu Ottrau bekleidete nämlich das Amt eines Dekans oder Erzpriesters und war als solcher der Vorgesetzte aller Priester des Dekanats Ottrau.
Den Umfang des Dekanats Ottrau lernen wir aus zwei Urkunden des späteren Mittelalters kennen. Nach der einen vom Jahre 1425 gehörten zur sedes Ottra, d. h. dem erzpriesterlichen Sprengel von Ottrau, die Kirchen in Hersfeld, (Nieder-) Aula, Schrecksbach, Schönberg, Mecklar, Obergeis, Eudorf und Kirchheim. Und nach der anderen von 1505 gehörten dazu die Kirchen in Ottera, Hersfeld, Niederaula, Schrecksbach, Obergeis, Eudorf, Schönberg, Asbach und Neukirchen. Das Dekanat Ottrau umfasste also ungefähr dasselbe Gebiet wie das ursprüngliche Kirchspiel Ottrau nach dem Verluste an Schlitz. Die Kirchspiele Lingelbach, Oberaula, Schwarzenborn und Breitenbach gehörten nicht dazu. Sie werden wenigstens in keiner der eben erwähnten zwei Urkunden genannt.7
Die Erzpriester nahmen, was die Größe ihres Amtsbereichs und ihre Befugnisse angeht, etwa die Stellung eines heutigen hessischen Metropolitans ein. Sie hatten nicht nur für das Christenvolk Sorge zu tragen, sondern auch das Leben der ihnen nachgeordneten Priester sorgfältig zu beaufsichtigen. Eine Gerichtsbarkeit über die Pfarrer stand ihnen zwar in der Regel nicht zu. Doch hatten sie die Aufsicht über die Amtsverwaltung der in ihrem Sprengel angestellten Priester, sie hielten mit ihnen zu gewissen Zeiten des Jahres sogenannte Landkapitel ab und waren beauftragt, die in ihren Dekanaten vorgefundenen Mängel und Missbräuche entweder selbst abzutun und mit dem Worte brüderlicher Zurechtweisung zu bestrafen oder an ihren Vorgesetzten, den Archidiakon, zu berichten.8
Leider weiß ich nur drei Ottrauer Erzpriester mit Namen zu nennen. In einer Hersfelder Urkunde aus der Zeit um 1300 kommt neben anderen auch Ludewicus, Archipresbiter sedis in Ottera, d. h. Ludwig, Erzpriester des Stuhles in Ottrau, vor. Am Eingang einer Urkunde vom 4. Oktober 1431 nennt sich neben anderen Geistlichen auch „Johann Dagmarshusen, erzeprister des Stuhles zu Ottra“. Nach Name und Zeit zu urteilen ist er wohl derselbe Mann wie der Kerspenhäuser Pfarrer Johann Dankmarshausen, von dem eine Urkunde meldet, dass er und seine Ehefrau zu ihrer beider und ihrer Eltern Seelenheil im Jahre 1431 dem Hersfelder Hospital als einer wohltätigen Stiftung 4 Acker Land (vor dem Klaustor am Wendeberg) geschenkt haben. Dass ein und derselbe Mann Pfarrer von Kerspenhausen und Erzpriester des Dekanats Ottrau war, braucht uns nicht besonders zu wundern. Es war im Mittelalter nicht selten, dass ein Geistlicher mehrere Pfründen zugleich innehatte. Dagegen bleibt es auffallend, dass Johann Dankmarshausen eine Ehefrau hatte. Er ist uns das merkwürdige Beispiel eines verheirateten katholischen Geistlichen, und seine Gattin ist die einzige Ottrauer Frau Pfarrer oder vielmehr Frau Erzpriester, die ich aus dem katholischen Mittelalter nennen kann.9
Gegen Ende des Mittelalters stand Johannes Bornysen (Burneisen) an der Spitze des Dekanats Ottrau. In einer Urkunde des Marburger Staatsarchivs vom 8. Februar 1461 ernennt Bornysen, der als Archipresbyter (Erzpriester) zu Ottra und Pfarrer daselbst und in Neukirchen bezeichnet wird, den Henricus Hutschenbach nach dem freiwilligen Verzicht des Pfarrers Heinrich Mengeß zum Vikar in Steina. Es erscheint, als ob Bornysen sich seine Ottrauer Stelle erst habe erkämpfen müssen. Das Königliche Staatsarchiv zu Marburg bewahrt nämlich das Bruchstück einer Urkunde auf mit der Inhaltsangabe „Rechtsspruch in Sachen des Presbyters Adam Cassel gegen den Presbyter Johannes Burneisen wegen der Pfarrei zu Ottera und Nuwenkirchen“. Ich habe dies Schriftstück wegen seiner sehr kleinen und eigenartigen Schrift nicht lesen können. Die Urkunde von 1461 scheint aber zu beweisen, dass Johannes Bornysen dem Adam Cassel bei der Bewerbung um Ottrau und Neukirchen den Rang abgelaufen hat.
Während das von Bonifatius eingerichtete mit der urzeitlichen Hundertschaft zusammenfallende Kirchspiel Ottrau sich im Laufe der Zeit in eine Anzahl selbstständiger Kirchspiele auflöste und sich seinem größeren Teile nach in den loseren Verband des Dekanats Ottrau umwandelte, entstand gleichzeitig ein kleines Kirchspiel Ottrau, das nur noch den Umfang des mittelalterlichen Zentgerichts Ottrau hatte. Es umfasste also die Dörfer Ottrau, Kleinropperhausen und Berfa sowie die ausgegangenen Ortschaften Romrod, Gerlachsdorf und Sachsenhausen. Doch gehörte im Jahre 1467 auch das Dorf Schorbach, soweit es auf dem rechten Ufer seines Wassers lag, zur Pfarrei Ottrau.10
Die geistliche Versorgung dieses kleinen Kirchspiels ging wohl weniger den Erzpriester an als vielmehr der anderen Geistlichen, der neben jenem in Ottrau wohnte. Dieser zweite Geistliche trug den Titel Plebanus, was soviel als Leutpriester oder einfacher Pfarrer bedeutet. Zuweilen scheinen auch mehrere solcher gewöhnlicher Pfarrer in Ottrau gestanden zu haben. Im Mittelalter pflegte das Volk wie überall so auch hier die Geistlichen Pfaffen zu nennen. Davon haben sich bis heute die Namen Pfaffenborn, Pfaffenbusch, Pfaffengärten erhalten. Heute ist Pfaffe ein Schimpfwort, vor Zeiten aber war es ein Ehrentitel.
Auch von diesen gewöhnlichen Ottrauer Pfarrern sind uns aus dem katholischen Mittelalter nur ein paar mit Namen bekannt. In einer Hersfelder Urkunde vom 20. Juni 1254 tritt „Wigand, Plebanus von Ottera“ als Zeuge auf. Und in einem Kaufbriefe vom Jahre 1317 begegnen uns Simon und Ludwig von Waldenstein, die Söhne des edlen Konrad von Waldenstein und seiner Gattin Elisabeth, als gleichzeitige „Plebane in Ottra“.11
Es waren Sprösslinge jenes hessischen Rittergeschlechts, dessen Burg sich im Efzetal erhob und dort noch heute als Ruine zu sehen ist. Dass zwei Brüder von Wallenstein auf einmal Pfarrer in Ottrau waren, lässt stark vermuten, dass die Pfarrei Ottrau damals noch ein reiches Stelleneinkommen besaß. Der Adel des Mittelalters pflegte nämlich die kirchlichen Stellen als eine Versorgung seiner jüngeren Söhne zu betrachten und war natürlich darauf bedacht, ihnen die besten Pfründen zu verschaffen.
Der einzige Ottrauer Pfarrer aus der Zeit vor der Reformation, von dem sich ein deutlicheres Bild zeichnen lässt, ist Thilemann von Kirchhain, der etwa 1360 bis 1400 in Ottrau wirkte. Er stammte aus einem angesehenen Fritzlarer Bürgerhause, war wohlhabend und wohltätig und erfreute sich bei der damaligen niederhessischen Geistlichkeit besonderer Beliebtheit und großen Vertrauens.
Seine Herkunft aus Fritzlar wird durch einige Urkunden erwiesen. Laut eines Kaufbriefes von 1339 hat Thilo von Kirchhain, ein Fritzlarer Bürger, seinen halben Mansus in Hadamar an den Altar aller Heiligen zu Fritzlar verkauft. In einem Kaufbriefe von 1379, worin es sich um ein Fritzlarer Grundstück handelt, kommen als Zeugen vor „die bescheidenen Leute Herr Hartlieb Lendemann, Herr Thilemann von Kirchhain, Pfarrer zu Wehren, Herr Albrecht von Gudensberg, Herr Thilemann Kirchhain, alle Altaristen zu Fritzlar, und Heinrich von Kirchhain, Bürger daselbst“. Die Familie von Kirchhain war also in und um Fritzlar begütert und zählte mehrere Pfarrer zu ihren Gliedern.
Für die Herkunft des Ottrauer Pfarrers aus Fritzlar und zugleich für seine Wohlhabenheit spricht ein dritter Kaufbrief, „der gegeben ist, da man zählte nach Gottes Geburt dreizehnhundert Jahre in dem acht und sechzigsten Jahre12 am Montag nach der heiligen Petri und Pauli Apostel Tage in der Gerstenernte“. Darin bekennt der Pfarrer Hartlieb Lendemann zu Hadamar, dass er „dem bescheidenen Manne, Herrn Thilemann von Kirchhain, Pfarrer zu Ottera“ seine „zwei Häuser und Hofreiten und was dazugehört …“, die da liegen auf dem Platz zu Fritzlar“, verkauft habe „für 64 Pfund hessischer Pfennige Fritzlarer Währung“. Außerdem musste unser Ottrauer Pfarrer „zwölf Schilling Pfennig Geldes dem Kapital des Stifts zu Fritzlar alljährlich aus der vorgenannten Hausung zu Zinse“ zahlen. Dies Haus wurde, wie wir aus einer Urkunde von 1401 erfahren, nach Pfarrer Thilemanns Tode der Gegenstand eines Prozesses. Der Streit schwebte zwischen „den ehrsamen Priestern Herrn Johann von Harle, Vikar in der Kirche zu Fritzlar, als einem Treuhänder und Aussrichter des Testaments weiland Herrn Thilemann von Kirchhain seligen (Pfarrer, da er lebte, zu Ottera) auf einer Seite und Herrn Johann von Hadamar, Pfleger des Altars des heiligen Kreuzes auf dem Letter, auf der anderen Seite“. Die Zwietracht zwischen diesen beiden Priestern war „erlaufen eines Hauses wegen, gelegen in der Stadt Fritzlar an der Ecke auf dem Platze, das der vorgenannte Herr Thilemann selige, als er lebte, innehatte und Herr Johann von Hadamar angesprochen hatte und ansprach in der Meinung, dass es in Recht zu seinem Altar vorgenannt gehörte und ihm als einem Pfleger desselben Altars folgen sollte“. Die Schiedsrichter entschieden dahin, „dass Herr Johann von Harle als ein Testamentsausrichter vorgenannt das Haus und Hofreite mit Nutzen und Beschwerung, wie das Herr Thilemann gelassen hatte, durch Heil desselben Herrn Thilemanns Seele zu dem vorgenannten Altar des heiligen Kreuzes auf dem Letter lediglich und ohne Widerrede solle folgen und ewiglich gehören lassen.“13
Wer als Ottrauer Pfarrer Häuser in Fritzlar kaufen konnte, der hatte offenbar überflüssiges Geld. Pfarrer Thilemann von Kirchhain verwendete sein Geld aber nicht nur zu seinem eigenen Nutzen, sondern auch zu kirchlichen Stiftungen. Zunächst ließ er in der Ottrauer Kirche ein Sakramentsschränkchen, d. h. ein Wandschränkchen zur Aufbewahrung der Hostien anlegen. Es trägt nach ihm noch heute die Inschrift „Tilomannus“. Dies Sakramentsschränken befindet sich in der Nordwand des Schiffes, neben der Brotseite des Altars. Wie ein Fachmann schreibt, ist es in rein gotischem Stile gehalten. Über dem kleinen, durch ein eisernes Gitter verschlossenen Schränkchen befindet sich eine ebenso breite, aber höhere Spitzbogenblende mit zusammengesetztem, in Blätter auslaufenden Nasenwerk. Auf dem Grunde der Blende muss ehemals ein Gemälde oder Relief gewesen sein, das zurzeit der Bilderstürmerei zerstört sein wird. Das Ganze ist rechtwinklig und von einem reichen Gesimse eingerahmt, welches am Rundstäbchen mit einem Sockel versehen ist. Das Sohlbankgesims ist in der Kehle mit vier fünfblättrigen Blumen geschmückt.14
Außer dieser Stiftung an seine Ottrauer Kirche ließ Pfarrer Thilemann auch der St. Nikolaikirche zu Neukirchen seine Milde widerfahren. Er stiftete ihr nämlich eine Kapelle am Chor: zugleich wohl ein Zeichen davon, dass damals zwischen den Pfarreien Ottrau und Neukirchen noch ein enger Zusammenhang bestand; wie sie ja auch in den Erzpriester Johannes Bornysen betreffenden Urkunden noch als eine Einheit erscheinen.
Wie angesehen und wohlgelitten Pfarrer Thilemann unter seinen hessischen Amtsbrüdern war, erhellt aus folgender Tatsache. 1339 wurde zu Fritzlar eine Vereinigung der niederhessischen Kloster- und Weltgeistlichkeit zwecks gemeinsamer Abwehr von Kränkungen und Vergewaltigungen des geistlichen Standes gegründet. Als dieser älteste hessische Pfarrerverein im Jahre 1386 neu belebt wurde, wurden in seinen Vorstand als Vertrauensmänner der Weltgeistlichkeit Herr Johannes, Pfarrer in Melsungen, und „Herr Tylemann, Pfarrer in Ottera“ gewählt, weil man zu ihrer Umsicht und Rechtlichkeit ein besonderes Zutrauen hatte.15
Thilemann von Kirchhain ist der einzige Stern erster Größe am Kirchenhimmel des mittelalterlichen Ottraus. Wenigstens ist uns weiter keiner bekannt. Wieviele Erzpriester und Priester mögen in den 800 Jahren von Bonifatius bis zur Reformation hier gestanden haben! Aber von den meisten gilt das Dichterwort: „Namen verklingen, finstere Vergessenheit breitet die dunkelnachtenden Schwingen über ganzen Geschlechtern aus“. Nur ein paar kennen wir. Und auch sie verdanken es mehr einem glücklichen Zufall als ihrer persönlichen Bedeutung, dass ihre Namen auf uns gekommen sind.
Älter als der Mensch pflegt das Haus zu werden, worin er ein- und ausgeht. So sind auch die Ottrauer Priester und Erzpriester lang überdauert von ihrer hiesigen Kirche. Zwar ist die jetzige Kirche nicht mehr das von Bonifatius erbaute Gotteshaus. Das ist längst verschwunden. Aber sie sieht auch schon auf ein hohes Alter zurück. Nach ihren Bauformen zu urteilen, ist unsere jetzige Kirche im 13. Jahrhundert entstanden. Doch lassen sich zwei verschiedene Bauzeiten unterscheiden. Im Anfang des 13. Jahrhunderts mag der Chor und gegen Ende des 13. Jahrhunderts mag das Schiff der Kirche erbaut sein. Der Chor ist nach 3 Seiten des Achtecks geschlossen und weist drei sehr schmale Rundbogenfenster auf, während das Schiff (von den in neuerer Zeit angelegten großen Fenstern abgesehen) auf der Süd- und Westseite je ein Spitzbogenfenster enthält. Die ganze Kirche war ursprünglich gewölbt, ist aber nun seit undenklichen Zeiten schon flachgedeckt. Von der Überwölbung haben sich nur kümmerliche Reste und Anzeichen erhalten. Seit dem 16. Jahrhundert wird das Schiff durch einen hölzernen Spitzbogen in eine quadratische östliche und eine rechteckige westliche Abteilung geteilt. Über dem Westende der Kirche erhebt sich der Turm, ein im Zopfstil gehaltener Dachreiter. Er birgt die drei Glocken. Die kleinste trug früher die Inschrift „† MIN MAGISTER †“ und stammte aus dem 13. Jahrhundert. 1874 zersprang sie und musste umgegossen werden. Die zweite ist auch noch aus dem Mittelalter, die dritte dagegen aus der Neuzeit. Ropperhausen hatte im Mittelalter eine eigene Kapelle, in der der Ottrauer Pfarrer den Dienst hatte. Diesen Dienst regelte eine Urkunde des Ritters Heinrich von Urff, der Burgfrau Jette von Rückershausen und des Johannes von Rückerhausen vom Jahre 1386, die in einem Aktenverzeichnis des Willingshäuser Archivs erwähnt wird.16
Patron unserer Kirche war der Abt des Klosters Hersfeld. Er hatte als Kirchenpatron am Einkommen der Pfarrei Ottrau teil und hatte das Recht, im Falle einer Neubesetzung den Pfarrer vorzuschlagen. Dies Patronatsrecht konnte den Abt leicht in Streitigkeiten mit dem Erzbischof von Mainz verwickeln. Dieser hatte als das geistliche Oberhaupt von ganz Hessen das Recht und die Pflicht, ab und zu den äußeren und inneren Zustand der Kirchen seiner Diözese zu untersuchen oder durch einen Vertreter, was für Niederhessen der Probst zu Fritzlar war, untersuchen zu lassen. Eine solche Kirchenvisitation nannte man Synode oder Sendgericht. Sie erstreckte sich auf den Zustand des Kirchenvermögens, die Lehre und das Leben der Geistlichen und den Wandel der Laien. Für die Abhaltung des Sendgerichts hatte der Bischof oder sein Vertreter freie Bewirtung von den Priestern des betroffenen Kirchspiels zu beanspruchen.17 Nun waren die Hersfelder Äbte für ihre Person und ihr Kloster durch päpstliche Gunst von der bischöflichen Gerichtsbarkeit der Sendgerichte befreit. In ihren Besitzungen, wozu auch Ottrau gehörte, mussten sie jedoch die geistliche Gerichtsbarkeit des Bischofs anerkennen. Indes beanspruchten die Äbte oft auch für ihre Patronatskirchen Befreiung vom bischöflichen Sendgericht und seinen Kosten; was dann zum Streit mit dem Bischof führen musste.
Von einem solchen Streite und seiner Schlichtung erzählt uns eine Urkunde vom 27. August 1057. Nach dieser Urkunde tritt Abt Meginher von Hersfeld dem Erzbischof Luitpold von Mainz einige Dörfer bei Mainz unter der Bedingung und zu dem Zweck ab, dass durch diese Güter ersetzt und für immer befriedigt sei, was der Erzbischof von Mainz, seine Landbischöfe und Vögte in Sachen des Sendgerichtes zu beanspruchen hatten von den Zehnten und Gebieten der Kirchen zu Laubach, Ottrau (Oteraho), Grebenau und Grüsen, sowie ferner zu dem Zweck, dass dadurch der Streit beendigt sei, der zwischen der Kirche von Ottrau und Heidelbach schwebte.18
Wie stand es nun im mittelalterlichen Ottrau mit dem christlichen Leben? Es hatte den Inhalt und die Form des römisch-katholischen Christentums, war also von dem heutigen mannigfach verschieden. Die Kirche wurde durch die sehr schmalen Rund- und Spitzbogenfenster nur schwach erhellt. Ihr Inneres lag im Dämmerlichte da und bedurfte der künstlichen Beleuchtung durch gewaltige Wachskerzen, die auf dem Hochaltar standen. Das Wachs stammte wohl aus Ottrau selbst. Denn wie die alten Kirchenrechnungen zeigen, waren einst mehrere hiesige Güter verpflichtet, alljährlich eine gewisse Menge Wachs an die Kirche zu liefern. Diese halbdunkle Kirche entsprach ganz ihrem damaligen Zwecke. Denn im Mittelpunkte des Gottesdienstes stand nicht die vom Gemeindegesang umrahmte Predigt, die sich ans Denken und Gewissen wendet, sondern die Messe, bei der es auf die Erregung frommer Gefühle ankommt. In der Messe werden nach katholischer Anschauung Brot und Wein in Christi Leib und Blut verwandelt und dann Gott als Versöhnungsopfer für Lebende und Tote dargebracht. Dieser unbegreifliche Vorgang ließ sich aber im geheimnisvollen Halbdunkel besser miterleben, als im hellen Tageslichte. Die besondere Hochschätzung der Messe spricht sich auch in Pfarrer Thilemanns Stiftung aus. Er schenkte seiner Kirche nicht etwa eine neue Kanzel. Die war damals kaum nötig, weil im Mittelalter nur selten einmal gepredigt wurde. Vielmehr stiftete er ein Sakramentsschränkchen zur Aufbewahrung der in der Messe geweihten oder zu weihenden Hostien.
An eine andere Seite der katholischen Frömmigkeit gemahnen uns zwei Nischen unserer Kirche. Die eine rechteckige befindet sich an der Außenseite über der Haupttür, und die andere, giebelförmig überdeckte, befindet sich in der Nordwand des Chors. Was hatten diese Wandvertiefungen für einen Zweck? Keinen anderen als den, Heiligenbilder aufzunehmen. Heiligenanrufung und Bilderverehrung mögen im religiösen Leben unserer Vorfahren eine große Rolle gespielt haben.
Die katholische Kirche hat ihre Glieder aber auch allezeit zu frommen Werken und Opfern angeleitet. Als das frömmste Leben preist sie das Leben des Mönches und der Nonne, die freiwillig das Gelübde der Armut, Ehelosigkeit und des unbedingten Gehorsams gegen ihre Oberen auf sich nehmen. Von dieser Hochschätzung des Klosterlebens waren natürlich auch die mittelalterlichen Ottrauer erfüllt. Die mag ihnen von ihrer Grundherrschaft, dem Kloster Hersfeld, von vornherein anerzogen sein, und die musste aufs Neue bestärkt werden, als im Jahre 1173 das von Mönchen und Nonnen bewohnte Augustinerkloster im nahen Immichenhain gegründet wurde. Die Augustiner waren Bettelmönche, die sich ihren Unterhalt durch frommen Bettel zusammentrugen. Sie werden in Ottrau manches Mal von Haus zu Haus gegangen sein, und unsere katholisch-frommen Vorfahren werden ihnen „um Gottes willen“ manchmal den Bettelsack gefüllt haben. Vielleicht war es auch nicht selten, dass Ottrauer Jünglinge und Jungfrauen als Mönche oder Nonnen ins Immichenhainer Kloster eintraten. Die Söhne und Töchter des Adels fanden im Kloster nicht nur Versorgung, sondern auch Ehrenstellen. Wie wir den Ottrauer Ritterssohn Volpert von Ottera im Dienste des deutschen Ordens hoch emporsteigen sahen, so zeigt uns eine Urkunde des Marburger Staatsarchivs vom 20. August 1399 die Geschwister Johann und Emelud von Rückershausen an der Spitze des Klosters Immichenhain. Johann war Probst, d. h. Vorsteher der Mönche, und Emelud war „Meisterin“, d. h. Vorsteherin der Nonnen.
Wer nicht selbst Mönch und Nonne werden konnte, der setzte wohl gern ein Vermächtnis zugunsten des Klosters auf, damit die Klosterleute seine Seele durch ihre Fürbitte bald vom Fegefeuer erlösen sollten. So bekennen die Eheleute Wilhelm und Demut in Sachsenhausen am 9. Oktober 1340, dass sie mit Wissen ihrer 8 Kinder einen Schilling leichter Pfennige auf ihrem Erbe zu Sachsenhausen, das sie vom Immichenhainer Kloster hätten, an besagtes Kloster zum Seelgeräte gegeben hätten. In ähnlicher Weise sorgten auch Kinder für das Seelenheil ihrer verstorbenen Eltern. So bekennen Ditmar und Ortwin Wizygele am 19. September 1339, dass sie den Jungfrauen zu Immichenhain zum Seelengeräte ihres verstorbenen Vaters 4 Schillinge Pfennige Geldes in das Siechenhaus und 1 Huhn von ihrem Gute zu Gerlachsdorf geben sollten.19
Während uns diese Anschauungen unserer Vorfahren fremd geworden sind, gibt es doch eins, was wir mit ihnen noch gemein haben. Das ist die Liebe zum gekreuzigten Heiland. Wir singen: „In meines Herzens Grunde dein Nam‘ und Kreuz allein funkelt all‘ Zeit und Stunde“, und sie stellten das Kreuz mit dem Gekreuzigten auf weithin sichtbaren Hügeln und an vielbegangenen Wegen auf. Daran erinnert uns noch heute der Flurname des Kreuzrains. Auf ihm stand in katholischer Vorzeit ein Kruzifix. Und mag es auch zu mancherlei Anlass gegeben haben, was wir als „Bilderdienst“ ablehnen müssten, so hat es doch sicher den Vorübergehenden auch manche heilsame Predigt ohne Worte gehalten.
Das Kreuz am Wege
Am Wege zwischen zwei Linden
Da steht ein Kreuz aus Stein.
Dran hängt der sterbende Heiland
Verlassen und allein.
Den Mund umzuckt noch die Klage:
„Ihr habt mir Müh‘ gemacht!“
Das Auge strahlt schon den Jubel:
„Gottlob, es ist vollbracht!“
Das Kreuz erblicken sie alle,
Die hier vorübergehn,
Und jedem hats viel zu sagen.
Wollts nur ein jedes verstehn!
Es tröstet den Mühebeladenen:
„Der hier am Kreuze hängt,
Der trug viel schwerere Bürde,
Als deine Seele bedrängt“.
Es straft den sicheren Sünder,
Der nimmer sein Heil bedacht:
„Wie darfst du der Sünde dienen,
Die ihn ans Kreuz gebracht?“
Doch naht ein wundes Gewissen
Mit schwerem, reuigem Mut,
Das tröstet der Heiland vom Kreuze:
„Ich starb auch Dir zugut“.
Und bleibt ein Mütterlein rasten,
Das nah‘ seinem Grabe bereits,
So mag es hier denken und wünschen:
„Möcht‘ sterben im Blick aufs Kreuz!“
1 HM: Anfang des 20. Jahrhunderts wurden an gleicher Stelle zwei neue Eichen gepflanzt
2 WW: Rommel, Hess. Geschichte Bd. 1, S. 63
3 WW: Schneider, Hess. Sagenbüchlein 2. Aufl. S. 30
4 HM: geschrieben 1910, also ca. um 1700
5 WW: Schneider, Hess. Sagenbüchlein 2. Aufl. S. 30
6 WW: Die Marktbeschreibung der Kirche in Schlitz ist zuletzt veröffentlicht und erläutert von Haaß a.a.O. – Haaß verwirft zwar die Ottrauer Urkunde von 782 als unecht. Aber indem er ausführt, dass die Großmark Oberaula (d. h. etwa die späteren Kirchspiele Lingelbach, Breitenbach, Oberaula, Schwarzenborn) erst im 10. Jahrh. zum Zehntgebiet von Schlitz hinzugefügt sei, schafft er gerade Raum für die Annahme, dass jene unechte Urkunde in der Sache doch Recht hat. Wenn die Großmark Oberaula vor dem 10. Jahrh. noch nicht zum Schlitzer Zehtngebiet gehörte, so gehörte sie eben zu dem einer anderen Kirche. Welche könnte da aber wohl mehr in Betracht kommen als die Kirche zu Ottrau, mit dem die Großmark Oberaula geografisch wie geschichtlich viel enger zusammengehörte als mit Schlitz? Die Zuerteilung der Großmark Oberaula an Schlitz, wodurch das Ottrauer Kirchengebiet in der unnatürlichen Weise zerrissen wurde, stellt eine nachträgliche Beraubung von Ottrau zugunsten von Schlitz, bezw. von Hersfeld zugunsten von Fulda oder Mainz, dar. Unsere Urkunde von 782 lehrt uns also nicht nur spätere Hersfelder Wünsche, sondern auch die ursprünglichen wirklichen Verhältnisse kennen. Ist sie auch formell eine Fälschung, so bleibt sie doch inhaltlich der Wahrheit nahe
7 WW: Falkenheiner, Gesch. hess. Städte u. Stifter II, S. 219; und Würdtwein, Dioecesis Moguntina III, S. 566
8 WW: Kopp, a. O. § 71
9 WW: Wenk, Urk.-buch zum 3. Band der „Hess. Landesgesch.“ S. 1; Kopp a.O. S. 54. Demme, Nachrichten und Urkunden zur Chronik v. Hersfeld Bd. 1 S. 38
10 WW: Landau, Der Hessengau, S. 132
11 WW: Wenck, Urk.-Buch zum 2. Bd. S. 177 f., U. B. zum 3. Bd. S 185
12 WW: 1368
13 WW: Würdtwein, a.O., S. 431. 449-452
14 WW: Siehe hierüber und über die anderen Baudenkmäler der Ottrauer Kirche: Dehn-Rothfelser und Lotz, Die Baudenkmäler im Regierungsbezirk Cassel, S. 212-214
15 WW: Würdtwein, a.O. S. 412
16 WW: Hierauf hat mich Herr Rentmeister Conrady aufmerksam gemacht
17 WW: Kopp, a. O. § 78 ff
18 WW: Wenck, U.-B. zum 2. Band S. 44 bis 46
19 WW: Im Marb. Staatsarchiv