Die Neuzeit
1. Abschnitt:
Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse
Etwa vom Jahre 1500 an pflegt man die Neuzeit zu rechnen. Damals kam es auf den meisten Gebieten des menschlichen Lebens zu wichtigen Veränderungen und Neubildungen. Die Entdeckung Amerikas (1492) erweiterte den Gesichtskreis der Menschen und lenkte den Handel in neue Bahnen. Die Wissenschaft nahm einen so gewaltigen Aufschwung, dass einer ihrer Verehrer ausrief: „Es ist eine Lust zu leben! Die Studien blühn!“ Aber auch der religiöse Glaube entfaltete in der Reformation eine Kraft, die groß genug war, um neben der römisch-katholischen Papstkirche eine neue, die evangelische Kirche, zu schaffen.
Freilich machte sich die neue Zeit nicht auf allen Lebensgebieten und in allen Gegenden gleich schnell bemerkbar. Die Eiche und die Esche sehen noch winterlich kahl aus, wenn unsere Obstbäume schon Blätter und Blüten zeigen. In Ottrau und gar in Schwarzenborn leuchtet oft noch der Schnee, wenn die Gemarkungen des Schwalmtals schon grau und grün schimmern. So nehmen wir auch auf dem Gebiete des politisch-wirtschaftlichen Lebens in Ottrau zunächst keinerlei Veränderungen wahr. Das Lehnswesen, das wir im Mittelalter hier vorfanden, setzte sich in der Neuzeit fort. Ja, es hat sich noch dreieinhalb Jahrhunderte erhalten, wenn es auch mehr und mehr an Bedeutung verlor.
Kapitel 1: Die Gerichtsherren.
Zunächst blieb Ottrau noch im Besitz der Familie von Rückershausen. Am 7. Januar 1524 wurde Helwig von Rückershausen als der Älteste seines Geschlechts durch den Hersfelder Abt mit dem Gericht zu Ottera belehnt. Helwig empfing das Lehen für sich und seine Vettern. Diese waren auch Söhne eines Helwig von Rückerhausen und hießen Helwig, Heinrich, Helfrich und Valentin. Von dem alten Rückershäuser Stamm waren also noch zwei Äste vorhanden; der eine dargestellt durch Helwig den Älteren und der andere durch seine vier Vettern.
Zu den Lehensgütern, die Helwig der Ältere mit seinen Vettern gemeinsam besaß, kaufte er 1525 von Probst Ludwig zu St. Johannesberg, unter Zustimmung des Abts zu Hersfeld, noch einige Sonderbesitztümer, nämlich den großen und kleinen Zehnten zu Ropperhausen; 6 Turnosse, 2 Hühner und ½ Malter Käse jährlichen Zins von den Gütern, die einst Heinrich von Ropperhausen gehört hatten; 6 Viertel Hafer im Dorfe Sachsenhausen, 4 Viertel Frucht in Reimelrod und ½ Malter Käse vom Dorfe Niederberfa (d. i. dem Berfhof und der Berfmühle); ferner 3 Turnosse Zinsen vom Dorfe Nausis und ein Viertel Weizen, 3 Viertel Hafer und 15 Turnosse jährlichen Zins zu Riebelsdorf; ferner den Wald genannt der Sebbel in der Mark zu Ottrau; endlich 10 Mesten Korn, 20 Mesten Hafer und 10 Turnosse jährlichen Zins vom Guntzelroths-Gut zu Ottrau.1
Helwig der Ältere starb 1551 als Amtmann zu Auerberg. Er hinterließ zwei Töchter, von denen die eine mit einem Herrn von Merlau, die andere Helena, mit Hartmann Schleier (Schleger) zu Schiffelbach verheiratet war. Da das Gericht Ottrau als Hersfeldisches Mannlehn eigentlich nur in der männlichen Linie forterben konnte, suchte Helwigs jüngster Vetter Valentin, alles an sich zu bringen und die beiden Nichten von der Erbfolge auszuschließen. Es gelang ihm jedoch nicht. Helwigs Töchter traten in alle Rechte ihres Vaters ein, wodurch die Familie Schleier nach Ottrau kam.
Überhaupt waren die Tage der Familie von Rückershausen gezählt. Der eben erwähnte Valentin, der einen langwierigen Prozess mit einem Berfer Bauern Hen Matheis führte, folgte seinem Vetter Helwig dem Älteren schon 1560 im Tode nach. Ihn überlebten zwei unmündige Kinder aus seiner Ehe mit Dorothea von Riedesel, nämlich ein Sohn Helwig und eine Tochter Dorothea. 1560 und 1573 ließ sich Adolf Hermann Riedesel zu Eisenbach als Helwigs Vormund mit dem Gericht Ottrau belehnen. Aber schon 1576 starb Helwig, der letzte männliche Spross der Familie von Rückershausen, anscheinend ohne volljährig geworden zu sein.
Gegen die Erbfolge der Dorothea von Rückerhausen erhob sich nun dasselbe Bedenken, das ihr Vater Valentin 1551 gegen die Erbfolge seiner beiden Nichten geltend gemacht hatte. Das Gericht zu Ottrau war ein Hersfeldisches Mannlehn, worauf Töchter von Rückerhausen keinen Rechtsanspruch hatten. Abt Ludwig von Hersfeld sah deshalb des letztverstorbenen Helwigs Anteil an Ottrau als ein heimgefallenes Lehen an und tat ihn anderweitig aus. Am 12. Juli 1576 gab er nämlich diesen Anteil seinem Marschall Reinhard von Baumbach und seinen Räten Antonius Winther, Georg Rüdiger und Berthold Murhart wegen ihrer Verdienste um das Stift Hersfeld zu Lehen . Aber wie 25 Jahre zuvor die beiden Erbtöchter der älteren Rückershäuser Linie Gnade statt Recht erfahren hatten, so jetzt auch Dorothea. Ihr Vormund und Oheim, der hessische Erbmarschall Riedesel zu Eisenbach, wusste den Landgrafen Wilhelm IV. von Hessen zu gewinnen. Auf dessen Fürsprache hin wurde die Belehnung vom 12. Juli 1576 rückgängig gemacht und am 24. April 1577 ein Vertrag zu Cassel abgeschlossen, laut dessen Dorothea von Rückershausen und ihre männlichen Leibeserben mit dem Gericht zu Ottrau belehnt wurden. Für diese Belehnung musste Dorothea dem Stift zu Hersfeld 1500 Gulden, jeden zu 15 Batzen, entrichten und 50 gute Stämme Bauholz aus den Ottrauer Waldungen liefern. Als Schmerzengeld für das ihnen so unverhofft entgangene Lehen empfingen Reinhard von Baumbach und seine Genossen die 1500 Gulden zu Lehen. Zugleich wurde bestimmt, dass der Lehnsbrief vom 12. Juli 1576 wieder in Kraft treten solle, wenn Dorotheas männliche Nachkommenschaft ausstürbe. Etwaige weibliche Nachkommen Dorotheas sollten dann aber jene 1500 Gulden vom Stift Hersfeld zurückerhalten. Dieser Fall ist jedoch niemals eingetreten. Dorothea von Rückerhausen heiratete bald nach seiner Belehnung den Johann Schwertzell zu Willingshausen, und ihre männlichen Nachkommen, die Herren von Schwertzell, sind bis heute in Ottrau begütert.
Mit Johann Schwertzell zu Willingshausen trat ein Adelsgeschlecht in Beziehung zu unserem Dorfe, das ebenso altangesehen wie die von Rückershausen war. Schon 1237 werden Bruno und Volprecht Schwertzell urkundlich erwähnt. Aber während die von Rückershausen längst ausgestorben sind, ist es dem Geschlecht derer von Schwertzell vergönnt, noch heute zu blühn, und sein Verhältnis zu Ottrau hat sich im Laufe der Zeiten wohl geändert, aber nicht gelöst.
Bis zum Jahre 1551 war das Gericht Ottrau in der Hand eines einzigen Geschlechtes, nämlich derer von Rückershausen. Von da ab sehen wir verschiedene Familien sich in den Besitz unseres Dorfes teilen. Von 1551 bis 1576 stehen nebeneinander die Namen Schleier und Rückershausen, von 1576 bis 1577 Schleier und Baumbach nebst Genossen, von 1577 bis 1608 Schleier und Schwertzell, von da ab die hessischen Landesfürsten und Schwertzell. Diese Teilung unter verschiedene Geschlechter hatte mancherlei Folgen. Solange der Name von Rückershausen allein in Ottrau herrschte, geschah die Belehnung immer durch einen einzigen Lehnsbrief. Der Älteste des Stammes empfing das Lehen für das ganze Geschlecht. Sobald aber verschiedene Namen nebeneinander traten, wurde jede der beiden Seiten in einem besonderen Briefe belehnt. Wahrscheinlich ist im Zusammenhang damit auch eine Zweiteilung des adligen Hofgutes vorgenommen. Während die verschiedenen Linien derer von Rückershausen sich nur den Ertrag des Gutes geteilt haben mochten, wurde nun das Gut selbst geteilt und jedem der beiden Gerichtsherren eine Hälfte zugewiesen. Die Schleier erhielten die Stammländereien der beiden jetzigen Merlischen Güter, während die Rückershausen den Grundstock des jetzigen v. Schwertzellschen Gutes empfingen. Daher kommt es, dass noch heute neben den einzelnen Merlischen Äckern je ein gleichgroßer v. Schwertzellscher Acker liegt. Ebenso scheint man damals die Einwohner des Gerichts Ottrau halb zu Untertanen der Schleier und halb zu Untertanen der von Rückershausen gemacht zu haben. Jene waren den Schleiern zu Abgaben und Diensten verpflichtet, diese den von Rückershausen.
Die Familie Schleier hat nur 60 Jahre lang mit Ottrau in Zusammenhang gestanden. Und doch ist hier viel von ihr zu erzählen. Diese alte hessische Ritterfamilie kam, wie schon erwähnt wurde, dadurch nach Ottrau, dass Hartmann Schleier sich mit Helena, einer der beiden Töchter des älteren Helwigs von Rückershausen, verheiratete. Am 21. Februar 1550, also noch zu Lebzeiten ihres Vaters, wurde Helena Schleier mit den von ihrem Vater angekauften Sonderbesitztümern belehnt. Am 2. Juli 1552, also nach ihres Vaters Tode, empfing sie dann auch, jetzt schon Hartmann Schleiers seligen verlassene Witfrau genannt, die Belehnung mit dem halben Gericht Ottrau. Nachdem Abt Kraft (Crato) von Hersfeld 1556 gestorben war, wurden am 29. März 1557 Helena Schleier als Helwigs von Rückershausen Tochter, und Anna Rhauin geborene Tochter zu Merlau, als Helwigs Dichter, d. h. Enkelin, durch den neuen Abt Michael sowohl mit dem von Helwig gekauften Sonderbesitzungen, als auch mit dem halben Gericht Ottrau belehnt. 1568 scheint Helena Schleier geb. von Rückershausen gestorben zu sein. Denn am 22. Dezember dieses Jahres wurde ihr Sohn Johann Schleier und dessen Schwester auf dieselbe doppelte Art belehnt, ohne dass der Anna Rhauin geb. von Merlau noch Erwähnung geschähe.
Gleich den letzten Ausläufern der Rückershausen scheinen auch die Ottrauer Schleier sehr kurzlebig gewesen zu sein. Johann Schleier muss schon 1579 gestorben sein. Denn am 12. Februar 1580 empfing sein ältester Sohn Otto Helwig Schleier für sich und seine Brüder Hartmann, Daniel und Christoph sowie seine Schwestern Helena und Margareta die Belehnung mit den 1525 von Helwig erkauften Gütern sowie dem halben Gericht Ottrau.2
Otto Helwig Schleier ist der bekannteste von allen ritterlichen Gewalthabern, die je über Ottrau geboten. Die übrigen sind in Ottrau längst vergessen. Von ihm spricht man noch heute. Diese Berühmtheit verdankt er aber nicht etwa seiner besonderen Tüchtigkeit, sondern dem Zufall, dass sein Grabdenkmal die Gemeinde jeden Sonntag an ihn erinnert. Stolz und streng blickt sein eindrucksvolles Steinbild noch heute von der Nordwand der Ottrauer Kirche hernieder. Als einen stolzen und strengen Mann lernen wir ihn auch aus den Akten kennen. Die Dorfsage macht ihn daneben zum leidenschaftlichen Spieler, dem kein Einsatz zu hoch ist.
Im Jahre 1593 hatten sich die Gebrüder Schleier ihr Erbe geteilt. Dabei war unserem Otto Helwig das Schleiersche Drittel des Gerichts Röllshausen und der Schleiersche Anteil am Gericht Ottrau zugefallen. Zum Wohnsitze erwählte er sich Ottrau. Leider traf er hier eine sehr wenig einladende Behausung an. Er musste sich nämlich mit dem Hofhause, der seitherigen Wohnung des Schleierschen Meiers, begnügen, und dieser musste in den Schafstall weichen, zwischen welchen beiden Wohnungen jedoch kein großer Unterschied war.
Kein Wunder, dass in Otto Helwig der Wunsch nach einer standesgemäßeren Behausung erwachte. Er beschloss, sich 400 bis 500 Schritte vor dem Dorfe einen neuen Burgsitz auf das Feld zu bauen, wozu ihm die Schleierschen Untersassen des Gerichts Hand- und Spanndienste leisten sollten. Der Plan war nicht übel, seine Ausführung sollte aber einen kleinen Bauernkrieg hervorrufen. Zwar fand Otto Helwig anfangs in Ottrau selbst keinen Widerstand. Dagegen verweigerten ihm die Fahrbauern in Berfa die verlangten Dienste, weil sie „gemessene“, d. h. ein für allemal genau festgesetzte Dienste hätten, über die hinaus sie keine neuen zu übernehmen brauchten. Otto Helwig bestritt das und gebrauchte gegen seine unruhigen, widerspenstigen Untertanen notdränglich gebührende Pfändung einiger Pferde. Da liefen die Berfer den Herrn Abt in Hersfeld an, der auch wirklich vor Landgraf Moritz ihre Partei ergriff. Er schrieb dem Landgrafen, Schleier wolle die Burgdienste bei ein Bauernhaus haben, und verlangte, dass Otto Helwig die Pfänder ohne Entgelt zurückgebe. Dem gab jedoch der Landgraf nicht statt. Vielmehr befahl er dem Rentmeister in Ziegenhain, die Sache erst zu untersuchen, worauf dann in Gegenwart eines Hersfeldischen Rates am 20. Januar 1596 der Bescheid erging, die Berfer hätten Unrecht mit ihrer Weigerung, sie müssten hinfort dieselben Dienste wie die Ottrauer leisten und hätten Schleier die Futterkosten der abgepfändeten Pferde zu ersetzen.
Eine Zeit lang ging es nun wirklich gut. Die Fahrbauern leisteten Fuhren, und die Kötner halfen dem Maurer Steine brechen. Auf einmal, am 30. März, als Otto Helwig sich im Geringsten keiner Sperrung vermutete, traten die Ottrauer und Berfer zugleich in den Ausstand. Die Fahrbauern weigerten sich, das Holz hinauszufahren, und die Kötner traten von ihrer Arbeit im Steinbruch ab und wollten Schleier ferner nicht dienen. Otto Helwig versuchte es zunächst mit Güte. Er gab den Widerspenstigen zu bedenken, dass ihre Vorfahren die Dienste, die sie ihm jetzt im Gericht Ottrau weigerten, von undenklichen Jahren her bis nach Merzhausen, Schrecksbach und Röllshausen hätten leisten müssen. Er stellte ihnen den traurigen Zustand seiner Behausung vor, worin er selbst nicht bleiben, geschweige denn Gäste beherbergen könne. Zudem baue er niemand zum Schaden, da er weder ihre Äcker noch Wiesen zu berühren brauche, sondern seinen Neubau auf dem gemeinen Wege erreiche. Insbesondere brauchen sich die Kötner keiner Übermaß zu beschweren, da das Steinebrechen nur alle 16 bis 18 Tage einmal an einen komme. Endlich hoffe er, auch seine Röllshäuser Untertanen noch zu den Baudiensten heranziehen zu können, so dass das Gericht Ottrau noch weniger beschwert würde.
Aber alles Zureden fruchtete nicht. Die Dienstverweigerer traten ganz mutwillig und trotzig ab, sodass Schleier andere Leute zum Holzfahren und Steinebrechen bringen musste. Doch zog er, um sein Recht zu behaupten, 5 der Widerspenstigen in Gewahrsam (wie jeder Zeit, wann sie ungehorsam gewesen, allhier geschehen), wobei er ihnen erklärte, sie sollten der Haft entlassen werden, wenn sie ihn seiner Dienste ungepfändet ließen.
So stand die Sache nach einem Rechtfertigungsschreiben, das Otto Helwig am 8. April 1597 an den landgräflichen Hauptmann zu Ziegenhain, Eitel von Berlepsch, richtete. Der Landgraf, an den sich die Schleierschen Hintersassen inzwischen gewandt hatten, mochte Otto Helwigs Darstellung doch nicht für ganz unparteiisch und zutreffend halten. Am 22. April befahl er nämlich dem Hauptmann in Ziegenhain, die Sache noch einmal zu untersuchen, und ordnete zugleich an, dass die 5 Bestrickten der Bestrickung gegen gewöhnliche Kaution und keinem Teil an seinem Rechte zu einigem Nachteil und Präjudiz erlassen würden. Doch führte auch das noch nicht zum Ziele. Abt Joachim von Hersfeld verwandte sich bald darauf beim Landgrafen wieder für die Schleierschen Untersassen, worauf der Landgraf, ärgerlich über die vergebliche Bemühung und Belästigung, am 22. Juli 1597 dem Hauptmann zu Ziegenhain schrieb, er solle endlich Frieden schaffen, damit die Parteien zur Ruhe gesetzt würden und er des vielen Anlaufens enthoben werde.
In der Tat scheint der Streit über die Baudienste nun beigelegt zu sein. Wir erfahren keine Silbe mehr darüber. Doch hielt die einmal erregte Kampfesstimmung noch lange vor und äußerte sich in weiteren Ausbrüchen. Wir entnehmen das einer Beschwerdeschrift, die die Schleierschen Untertanen zu Ottrau im September 1597 an den Landgrafen Moritz richteten. Sie beklagen sich darin bitter über Otto Helwig. Er verlange neue, ungewöhnliche Dienste von ihnen und habe ihre Weigerung damit beantwortet, dass er ihnen das Holz, wofür sie doch einen billigen und willigen Preis zahlen wollten, verweigert habe. Ja, bei vollbrachter Ernte habe er sie zur lieben Frucht keine Weide oder Bindgerte hauen lassen wollen. Unter anderem habe Schleier von ihnen verlangt, dass sie Kohlholz für ihn hauen sollten. Als der Bauer Althans Reitz sich dessen geweigert, sei er von den Schleierschen Dienern zu Loch geworfen, allerdings vor des Junkers Heimkunft wieder ledig gegeben. Hernach sei derselbe Nachbar angeheißen, dem Junker in Neukirchen Bier zu holen. Als er sich auch dieses neuen, ungewöhnlichen Dienstes geweigert habe, sei er vom Feld, da er Gerste gebunden, abgeholt und in Haften geführt. Er habe schon mehrere Tage gesessen, und seine Arbeit liege bei dieser unmüßigen Zeit gar darnieder. Zum Schluss rufen die Beschwerdeführer den Landgrafen um Hilfe gegen ihren Junker an.
Zugleich mit dem Ottrauer Althans Reitz muss Otto Helwig auch mehrere Berfer gefänglich eingezogen haben. In einem Briefe vom 11. September 1597 tritt nämlich Abt Joachim für Berfer Gefangene ein und verlangt, dass die „armen Leute“ freigegeben würden.
Wie dieser neue Streit auslief, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls fanden die Schleierschen Hintersassen nicht nur beim Abt zu Hersfeld, sondern auch beim Landgrafen in Cassel Gehör. Da mag Otto Helwig die gute alte Zeit des Mittelalters gelobt haben, wo ein Ritter mit seinen Bauern noch nach seinem Gutdünken schalten und walten konnte, und mag auf die neue Zeit gescholten haben, wo sich die Fürsten zwischen den Adel und seine Dienstleute stellten und beide Parteien gleichermaßen als ihre Untertanen behandelten. Zuletzt hat er den Staub Ottraus von seinen Füßen geschüttelt. Er ging nach Fulda, um dem dortigen Abte, von dem er seine Röllshäuser Besitzungen zu Lehen trug, als Oberst zu dienen. Wie in den Kirchenrechnungen zu lesen, nahm er die Hälfte der neuen Kirchenbibel mit, ohne sie je zurückzuerstatten. Das zeigt, dass er zwar selbst keine Bibel besaß, dass er aber doch im katholischen Fulda ein guter Protestant bleiben wollte. Am 27. Oktober 1604 starb Otto Helwig und wurde in der Ottrauer Kirche begraben. Wenigstens steht hier heute noch sein Grabstein, auf dem er gepanzert, das Schwert an seiner Linken und den Kommandostab in der Rechten, dargestellt ist.3
Von den bitteren Kämpfen, die Otto Helwig mit seinen Ottrauern geführt hat, weiß heute niemand mehr. Dagegen weiß der Volksmund zu erzählen, der steinerne Ritter in der Kirche sei ein leidenschaftlicher Spieler gewesen. Er habe einmal in einer einzigen Nacht den ganzen großen Sebbel-Wald verspielt. Das ist nun zwar nicht richtig, denn der Sebbel war noch 1607, also nach Otto Helwigs Tode, ein niemandem verpfändetes Eigentum der Familie Schleier. Aber wie in allen Sagen, so ist auch in dieser ein Wahrheitskern verborgen. Die Ottrauer Schleier waren in der Tat schlechte Haushalter. Sie trieben eine solche Schuldenwirtschaft, dass sie sich schließlich um ihre hiesigen Besitzungen brachten. Den handgreiflichen Beweis dafür haben wir an einer ziemlichen Anzahl von Schuldscheinen und Quittungen, die das Marburger Archiv aufbewahrt. Danach verlegte sich schon Johann Schleier aufs Geldborgen, und seine Söhne Otto Helwig und Christoph folgten ihm darin nach. Meist waren es Bauern aus Ottrau und Umgegend, von denen sie Darlehen annahmen. Doch finden wir auch zwei Pfarrer, den von Ottrau und den von Oberaula, unter ihren Gläubigern. Die erborgten Summen schwankten im einzelnen von 100 bis 600 Gulden. Neben der Borgerei suchten sie sich auch durch den Verkauf ihrer Gerechtsame über Wasser zu halten. Am 1. Januar 1600 verkaufte Otto Helwig fast alle ihm aus dem Gericht Ottrau zustehenden Gefälle an Frucht, Geld, Federvieh und Zehnten an Johann Schwertzell für 2200 harte Philippstaler. Um dieselbe Zeit verkaufte er das Schleiersche Drittteil des Gerichts Röllshausen für 8100 Gulden an Schwertzell, der es später dem Landgrafen Moritz abtrat. Otto Helwigs Bruder und Erbe Christoph und dessen Ehefrau Amelia Katharina geb. von Trümbach verkauften am 2. Christtag 1605 Fruchgefälle zu Riebelsdorf. Am 11. November 1607 verkauften dieselben Eheleute 15 Mött guter, reiner, harter und marktschöner Frucht, halb Korn und halb Hafer, die ihr Ropperhäuser Feldzehnter alljährlich abwarf, für 300 Gulden an den Fürstlich-hessischen Fähnrich Hieronymus Gramehl zu Treysa.
Alle diese Verkäufe waren wiederkäuflich oder wiederlöslich; d. h. sobald Schleier den empfangenen Kaufpreis nebst Zinsen an die Käufer zurückerstattete, ging auch der Handel zurück. Aber dazu war Schleier nicht imstande. Vielmehr sah er sich schließlich genötigt, seinen ganzen Anteil am Gericht Ottrau dem Landgrafen Moritz von Hessen zu verkaufen. Zu diesem Zwecke kam Christoph Schleier nebst einigen Verwandten am 15. September 1608 mit einem landgräflichen Kammerschreiber und dem Ziegenhainer Rentmeister in Treysa zusammen. Schleier erklärte, dass er seiner Gelegenheit nach und sonderlich seiner Brüder seligen gemachter und hinterlassener Schulden halber verursacht und getrieben sei, sein Anteil, nämlich den halben Teil des Gerichts Ottrau mit allen seinen Gerechtsamen als: Peinlichkeiten, hoher und niedriger Jagd, Fischerei, Geboten, Verboten, Bußen, Bräuchen, Renten, Zinsen und Gehölzen mit den darin gelegenen Dörfern als: Ottrau, Oberberfa,4 Ropperhausen, Hubener zu Sachsenhausen und Mühlen erblich zu verkaufen. Nachdem festgestellt war, was das Schleiersche halbe Gericht Ottrau an Geld, Frucht und anderen Gefällen jährlich einbringe und wieviel Acker Waldes es enthalte, gaben die Vertrauensmänner des Landgrafen ihr Gebot ab. Für jeden Gulden jährlichen Einkommens an barem Gelde boten sie 25 Gulden Kaufgeld, für je 3 Mött Korn Ziegenhainischen Gemäßes wie auch für je 6 Mött Hafer jährlichen Einkommens boten sie 100 Gulden. In Betreff der 2495 Acker Waldes, die zum Schleierschen Anteil gehörten, einigte man sich dahin, dass die eine Hälfte des Gehölzes mit 7½ und die andere mit 7 Gulden den Acker bezahlt werden solle. Endlich wurde noch verhandelt über den Verkauf des Schleierschen Burgsitzes und Hofes nebst Zubehör in Ottrau wie ingleichen des Schleierschen Hofs in Asterode. In kurzer Zeit wurde der Handel rechtskräftig. Landgraf Moritz bezahlte den Kaufpreis in Abschlagszahlungen, zum Teil an Christoph Schleier, zum Teil auch direkt an dessen zahlreiche Gläubiger. Die letzte Zahlung geschah am 31. Dezember 1612. Von diesem Tage ist auch der feierliche, auf Pergament geschriebene Kaufbrief datiert. Darin wird der 15. September 1608 als Verkaufstag bezeichnet und der Kaufpreis mit 30.000 Gulden, jeden zu 26 Albus in 9 Pfennig gemeiner landläufiger Münze, angegeben. – Durch diesen Verkauf schied die Familie Schleier von hier. Fortan teilten sich die Landesherrschaft und die Herren von Schwertzell in den Besitz des Gerichts Ottrau.5
Die Herren von Rückershausen und später ihre Rechtsnachfolger (d. h. die Herren von Schleier und die hessischen Landgrafen einerseits und die Herren von Schwertzell andererseits) waren die Machthaber und Herren im Gericht Ottrau. 1570 werden Rückershausen und Schleier die Ottrauische Obrigkeit genannt. Meist heißen aber die Gerichtsherren in den Akten einfach die Junker oder die Gerichtsjunker. Sie verwalteten das Gerichtsgebiet durch Beamte, die verschiedene Namen führen: die Diener, die Amtsdiener, Schultheiß und Vogt. Der letzte in Ottrau wohnhafte Schleiersche Beamte war Heinz Wagener. Er diente der Familie 47 Jahre als Schultheiß. Beim Verkauf des Schleierschen Anteils trat er in landgräflichen Dienst ein und wird dann bald als Förster, bald als Schultheiß und Richter bezeichnet. Nach ihm hat es keinen landgräflichen Schultheißen weiter in Ottrau gegeben. Die Landgrafen ließen das Richteramt im Gericht Ottrau durch ihren Amtsschultheiß in Neukirchen versehen und hielten in Ottrau nur noch einen Förster. Die meisten dieser herrschaftlichen Förster sind uns noch bekannt. Einer der ersten Nachfolger Heinz Wageners war Henrich Bauer († 1671). Ihn löste Joh. Henrich Haselach ab, dem 1701 Johannes Cornelius folgte. Dieser starb eines plötzlichen Todes. Wie nämlich das Ottrauer und Neukirchener Kirchenbuch berichten, stürzte er am 2. November 1710 im Neukircher Försterhause gelegentlich einer Hochzeitsfeier des Nachts die Treppe herunter und fiel sich den Hals ab. Zwei Tage später wurde er des Abends in der Stille mit sechs birkenen Fackeln in Ottrau begraben. Nun erbte sich das Amt des herrschaftlichen Försters mehr als 100 Jahre lang in der Familie Hücker vom Vater auf den Sohn fort. Dietrich Christoph († 1727), Jakob Ernst († 1782), Konrad Heinrich († 1818) und Ernst Ludwig Hücker († 1837) verwalteten es nacheinander. Die beiden ersten Hücker hatten ihren Wohnsitz noch in Ottrau, die beiden letzten aber in Görzhain. Konrad Heinrich Hücker, der einmal als reitender Förster mit 150 Talern Gehalt bezeichnet wird, siedelte um 1780 nach unserem Nachbardorfe über, weil in Ottrau keine Försterwohnung war und weil damals der Ottrauer Forst mit dem Görzhainer zusammengelegt wurde. – Von der v. Schwertzellschen Beamtenschaft ist Ähnliches zu vermelden. Auch die Familie von Schwertzell hat zunächst einen Schultheiß in Ottrau gehabt, hat dann aber später die richterliche Tätigkeit im Gericht Ottrau ihrem Willingshäuser Schultheiß übertragen und in Ottrau nur noch einen Förster gehalten. Auch das von Schwertzellsche Schultheißen- und Försteramt ist, und zwar wiederholt, lange Zeit hindurch in den Händen ein und derselben Familie gewesen. 90 Jahre hindurch finden wir die Familie Bampey im hiesigen v. Schwertzellschen Dienste, von Albert Bambey an, der uns 1580 als Schwertzellscher Diener begegnet, bis zu Heinrich Bambey, der 1669 als v. Schwertzellscher Förster starb. Noch weit länger erbte sich hierauf der v. Schwertzellsche Försterdienst in der Familie Stamm fort, nämlich von Erasmus Stamm († 1715) über Joh. Christoph († 1759) und Christian Stamm († 1792) bis zu dem 1832 verstorbenen Konrad Stamm. Welche Anhänglichkeit an den väterlichen Beruf und die überkommene Herrschaft bekunden doch diese Försterfamilien!
Kapitel 2: Das Amt der Gerichtsherren.
Was war nun Pflicht und Aufgabe der Gerichtsherren? Die Pflege des Rechts. Wie im Mittelalter, so war Ottrau auch in der Neuzeit der Sitz eines Zentgerichts. Die Leitung der Gerichtsverhandlungen war seit 1608 Sache des fürstlichen Amtsschultheißen zu Neukirchen und des v. Schwertzellschen Schultheißen zu Willingshausen. Als Beisitzer wirkten die 12 Schöffen mit. Man nahm dazu die angesehensten Bauern der Gerichtsdörfer; 4 aus Ottrau, 2 aus Ropperhausen und die übrigen 6 aus Berfa und Sachsenhausen. Mit Vorliebe nahm man Kirchenälteste zu diesem Amte. Daher finden wir in den Kirchenbüchern sehr oft die Zusammenstellung „der Kirchensenior und Gerichtsschöffe“. War die Stelle eines Schöffen erledigt, so schlugen die übrigen („der ehrbare Schöffenstuhl“) einen Nachfolger vor, den die Gerichtsherren, wenn er ihnen passte, erwählten, und der sein Amt dann mit dem eidlichen Gelöbnis antrat, der Gerichtsobrigkeit treu und hold zu sein und sich im Gericht unparteiisch zu verhalten, dem Reichen wie dem Armen und dem Armen wie dem Reichen Recht zu sprechen.
Gerichtssitzungen wurden in Ottrau jährlich drei gehalten. Dabei wurden die Streitigkeiten entschieden. Feldschäden und dergl. wurden von den Schöffen auch zu anderen Zeiten abgeschätzt und die Schuldner zur Bezahlung angewiesen. Die drei ordentlichen jährlichen Gerichtssitzungen eröffnete der Schultheiß mit den Fragen, ob es an dem Tage, Zeit und Stunde sei, dass dies Angebot und Gericht angefangen, geheget und gehalten werde, und wie solch‘ Angebot und Gericht anzufangen, zu hegen und zu halten sei, damit es Kraft und Macht habe. Nachdem der erste Schöffe auf die erste und der zweite Schöffe auf die zweite Frage geantwortet hatten, fuhr der Richter fort: So hege demnach an heut zutage dies Angebot und Gericht, allermaßen es der Schöffe jetzo erkannt hat. Hierauf fragte der Richter erst die Senioren und dann die Vorsteher, ob sie etwas anzuzeigen hätten. Zum Schluss las der Gerichtsschreiber die Rügen vor. Der Ort der hiesigen Gerichtsverhandlungen war zuletzt das Wirtshaus. Noch heute erzählt man sich, dass ein Zimmer im alten Wirtshause die Verhör- oder Gerichtstube hieß.
Die Strafen bestanden wohl meist in Geldbußen, die in die Kasse der beiden Gerichtsherren flossen. So wurden 1620 zwei Bauern mit Geldstrafe gestraft, weil sie Flachs wider Verbot im Backofen gedörrt hatten; zwei andere, weil sie vor Gericht ungehorsam gewesen. Doch wurden auch Gefängnisstrafen verhängt. Das Ottrauer Gefängnis, auch das Narrenhaus geheißen, stand erst am Wege vom Pfaffenborn zur Burg. Zuletzt war es auf dem Boden des Gesamtbrauhauses. 1586 erbauten Otto Helwig Schleier und Johann Schwertzell auch ein Gefängnis in Berfa an die Kirchhofmauer, um den damals oft widerspenstigen Berfern eine nähere „Sitzgelegenheit“ zu verschaffen. Die Berfer ruhten aber nicht eher, als bis sie diese zweifelhafte Ehre wieder los waren, zumal durch diese Neuerung ihrer Kinder Spiel- und Keulplatz verbaut war. Tunichtgute der verschiedensten Art wurden an den Schandpfahl gekettet und der öffentlichen Schande preisgegeben. Holzdiebe wurden ins Trillerhaus gesperrt, ein drehbares Gitterbehältnis, in dem sie wie auf einem Karussell herumgedreht wurden. Ein alter Ottrauer erzählte mir, dass er in seiner Kindheit, wo es längst kein Trillerhaus mehr in Ottrau gab, noch oft aus seiner Mutter Munde die Drohung gehört habe: „Wenn du nicht gehorchst, kommst du ins Trillerhaus.“ Jedenfalls ein Zeichen von dem hohen Respekt, den jenes Strafmittel genoss!6
Welche Rechtssachen gehörten nun vor das Ottrauer Gericht? Im Mittelalter, als die Macht des Rittertums am größten und der Einfluss der Landesfürsten noch gering war, hatten die meist in den Händen ritterlicher Familien befindlichen Zentgerichte nach und nach so gut wie alle Rechtsfälle an sich gezogen. Vor ihnen wurden nicht nur Prozesse über bewegliche, sondern auch über unbewegliche Habe geführt. Sie urteilten nicht nur über geringe Vergehen, sondern auch über Verbrechen, auf denen die Todesstrafe stand, übten also auch die sog. Peinlichkeit oder das peinliche Gericht aus. In der Neuzeit, als die Fürsten den Höhepunkt ihrer Macht erstiegen und die Adligen zu ihren Untertanen herabdrückten, wurde die Zuständigkeit der Zent- oder Patrimonialgerichte wieder eingeschränkt.
Vor allem suchten die Landesfürsten den Zentgerichten die Peinlichkeit zu entziehen und ihren Landgerichten vorzubehalten. In Ottrau trat dies Bestreben gelegentlich eines Totschlages zutage, der sich am 21. September 1610 hier zutrug und von einem der Hauptbeteiligten mit folgenden Worten geschildert wird: „Als ich, Johannes Scheffer, mit meinem Ackerjungen den 21. September nächst verschienen einen Wagen Holzes gegen Abend im Wald eingeladen, in der Meinung, denselben des Morgens nach Alsfeld zu führen, damals den Wagen im Wald stehn lassen und mit den Pferden wieder heimreiten wollen, meine Axt, so ich bei mir gehabt, mitgenommen – bin ich in der Dämmerung in meines Nachbars Clas Vaupels Pferch eines Diebs ansichtig worden, welcher ein Schaf auf den Hals geladen und damit über den Wiesengrund nach dem Wald zugelaufen. Da bin ich beneben meinem Jungen ihm nachgerannt. Hat er das Schaf niedergeworfen und die Flucht heftig zur Hand genommen. Als wir ihn aber ereilt und er vermerkt, dass er nicht weiter kommen können, hat er meiner heftig begehret, nach der Axt gegriffen und mich mit derselben vom Pferd gezogen. Da ich dann mit ihm gerungen und seiner mächtig geworden, mich mit Gewalt seiner erwehren müssen und ihm mit der Axt etliche Schläge gegeben und also mein Leben retten müssen. Wann ich mich nun befahret, er möchte etwa im Wald einen Hinterhalt von mehr solcher Gesellen haben, bin ich auf mein Pferd gesessen und mit Gewalt nach dem Dorf zugerannt. Darinnen habe ich ein Geschrei gemacht, dass etliche Nachbarn, sonderlich auch vor anderen die, denen die Schafe zuständig gewesen, hinausgelaufen und also ein großer Schafrödt (Schäferhund), so mitgelaufen, den Dieb wiederum antroffen. Und er sich abermals zur Gegenwehr gestellt, hat der eine hier, der andere dort ihm einen Streich gegeben, dass er sich gefangen geben müssen. Da er dann aus dem Wald über den Wiesengrund geführt, bis uns die Amtsdiener mit einem Wagen begegnet, ihn darauf gesetzt, ins Dorf geführt und ins Gefängnis gelegt. Darinnen er dann gefragt, warum er das Schaf gestohlen, hat er geantwortet, er habe es auf ihre Kirmes schlachten wollen. Und als ferner gefragt, ob er dann kein Geld gehabt, Fleisch zu kaufen, und also einem anderen seine Schafe zu stehlen, hat er geantwortet: Nein! Nach diesem, weil er übel bekleidet gewesen, ist er aus dem Gefängnis ins Wirtshaus geführt worden, in einer Ohnmacht nach wenigen Stunden aufgefahren, dem Wirt die Hand geben wollen, zurück auf den Kopf geschlagen und also Tods verfahren.“
Soweit die Darstellung des Johannes Scheffer, die ich als ein Sittenbild aus der Zeit vor 300 Jahren möglichst wörtlich mitgeteilt habe. Diese grausame und maßlose Selbsthilfe sollte für die Beteiligten unangenehme Folgen haben. Johannes Scheffer und vier andere Ottrauer (darunter auch der damalige Pfarrer Adam Fenner!) wurden als die Hauptschuldigen verhaftet; und zwar wurden sie nicht in das Zentgerichts-Gefängnis zu Ottrau, sondern in das Landesgerichtsgefängnis zu Ziegenhain gebracht, eben weil ihnen ein peinlicher Prozess bevorstand, den der Landgraf für sein Landgericht in Anspruch nahm. Aus dem Gefängnis richteten die Verhafteten nun ein Bittschreiben an die Behörde. Den Anfang kennen wir schon, es ist die vorhin mitgeteilte Schilderung des Totschlags. Am Schluss spielen sie die gekränkte Unschuld: Es habe noch mancher andere außer ihnen jenem Manne einen Schlag und Treff im finsteren Walde gegeben, wegen eines auf der Stahl ergriffenen Diebes stelle man keinen peinlichen Prozess an, dadurch würden nur die Diebe in ihrem Fürnehmen gestärkt und noch mehr Schafstehlens, als bereits sei, verursacht. Endlich bitten sie, man möge sie doch gegen Kaution aus der Haft entlassen, und von einem peinlichen Prozesse absehn, da sie für ihre Tat keineswegs an Leib und Leben zu strafen, sondern auf den äußersten Fall mit einer erträglichen Geldstrafe zu belegen seien. Welchen Erfolg dies Bittschreiben gehabt hat, kann ich nicht sagen. Doch scheint die Sache einen für die Verhafteten günstigen Verlauf genommen zu haben. Pfarrer Fenner wenigstens hat nachher noch Jahre lang sein Amt bekleidet.
Übrigens hatte die Verhaftung jener fünf Rädelsführer noch weitere Folgen. Als Johann Schwertzell ihre Abführung nach Ziegenhain erfuhr, beschwerte er sich an zuständiger Stelle darüber. Er habe die Peinlichkeit geradeso gut wie ehedem die Schleier und jetzt der Landgraf und verlange, dass die Gefangenen nach Ottrau zurückgebracht würden, damit das dortige Zehntgericht über sie urteile. Um über die Berechtigung dieses Anspruchs entscheiden zu können, forderte die Casseler Regierung den langjährigen Schleierschen Schultheiß Heinz Wagener zur Äußerung auf. Sie fiel für Johann Schwertzell ungünstig aus. Wagener berichtete nämlich unter dem 27. November 1610, dass das Ottrauer Gericht die Peinlichkeit nicht habe. Vor 30 Jahren habe Peter Schnücker von Weißenborn in der Schenke zu Ottrau eine Frau erschossen. Die Gerichtsjunker Schwertzell und Schleier hätten ihn nach Ottrau vor ein peinliches Halsgericht gefordert. Aber Landgraf Wilhelm IV. habe den Junkern die Peinlichkeit nicht gelassen, sondern den Täter nach Ziegenhain vor das peinliche Gericht zitiert. Und ebenso sei es gehalten, als sich vor 30 Jahren in Ottrau eine Schlägerei zwischen zwei Soldaten zugetragen habe, von denen der eine tot auf dem Platze blieb, während der andere flüchtete.
Dass dem Ottrauer Zentgericht die Peinlichkeit entzogen wurde, geschah mit Wissen und Willen der hessischen Regierung. Zuweilen wurde unser Gericht aber auch durch die Willkür einzelner hessischer Beamter benachteiligt. So beschwerte sich der v. Schwertzellsche Vormund D. Abraham Hemel 1633 über den fürstlichen Schultheißen Johann Hütterod zu Neukirchen, dieser verrichtete alle vorlaufenden Rechtssachen im Gesamtgericht Ottrau ohne Zutun des v. Schwertzellschen Schultheißen für sich allein, er halte die herkömmlichen Gesamtverhöre nicht in Ottrau ab, sondern ziehe sie vor sich allein nach Neukirchen, auch lasse er durch seine Diener für sich allein im Gericht Ottrau pfänden und maße sich der Peinlichkeit allein an, was alles dem Herkommen zuwider sei. Schultheiß Hütterod suchte sich durch die Berufung auf das von ihm befolgte Beispiel seiner Vorgänger zu rechtfertigen und wies darauf hin, dass die Peinlichkeit im Gericht Ottrau jederzeit in ruhigem Besitze des Landgrafen gewesen sei. Die Casseler Regierung gab aber dem v. Schwertzellschen Vormund zum Teil Recht. Sie verfügte unter dem 8. Dezember 1633, weil der Landgraf sein Erbteil im Gericht Ottrau von Schleier erlangt, der die Gerichtsbarkeit mit den Schwertzelln gemein gehabt, so solle sich der Schultheiß in Neukirchen hinfüro der privaten Verhöre enthalten und dieselben sowie andere zur Rechtsprechung gehörige Handlungen mit dem Schwertzellschen Schultheiß zusammen vornehmen, wie es zur Zeit Schleiers gewesen sei. Nur solle der Neukircher Schultheiß „wegen unseres gnädigen Fürsten und Herrn“, d. h. als Beamter des Landgrafen, den Vorsitz behalten. Die Peinlichkeit solle dem Landgrafen solange allein bleiben, bis die v. Schwertzell den Beweis erbracht, dass auch sie daran teil hätten.
Dass von da an in Ottrau wieder Gericht gehalten ist, lehrt ein im Staatsarchiv zu Marburg aufbewahrtes dickes Aktenbündel mit der Aufschrift „Der Sohn des Pfarrers Knabenschuh, Heinrich, überfällt in Gemeinschaft mit Bastian Lippert und Johann Diedrich, nachdem sie angeblich zuvor im Pfarrhaus gesoffen und mit den Judenweibern, so darin geherbergt, getanzt und allerlei Leichtfertigkeit getrieben, am Abend des Sonntags Estomihi (22. Februar 1680) den Sohn des Leinewebers Johannes Schneider, Hans Peter, daselbst mörderischer Weise und verwundet ihn auf den Tod, sodaß derselbe nur nach langer Zeit geneset.“ Am 1. und 12. Juli 1680 fanden Verhandlungen über diese Sache vor dem Gericht in Ottrau statt. Sie zeigen uns ein hässliches Bild von dem wüsten Treiben einer zuchtlosen Jugend und lassen uns erkennen, dass der Alkoholteufel schon vor alters viel Unheil angerichtet hat.7
Nach diesen Vorgängen hat das Ottrauer Gericht noch an 130 Jahre bestanden, bis die Errichtung des Königreichs Westfalen ihm, wie allen Patrimonialgerichten, auf immer ein Ende machte.
Kapitel 3: Die Einkünfte und Rechte der Gerichtsherren.
Die Verwaltung der niederen Gerichtsbarkeit – das war also Pflicht und Aufgabe der Ottrauer Gerichtsherren oder der Dienst, den sie den Gerichtsdörfern Ottrau, Berfa, Ropperhausen und Sachsenhausen leisteten. Sie verwalteten dies Amt aber nicht umsonst, sondern waren gewissermaßen zur Besoldung für die Versehung jenes Amtes mit dem größten Teile des Gerichtsgebietes belehnt. Natürlich konnten sie dies Gebiet nur teilweise selbst verwalten. So verfuhren sie mit dem Hofgut (bezw. den beiden Hofgütern), dem Walde, der Jagd und Fischerei, der Wirtschaft und verschiedenen Gestattungen. Alles Übrige verwerteten sie auf die Weise, dass sie es den Einwohnern des Gerichtsgebietes gegen mancherlei Abgaben und Leistungen als Lehen überließen. Es ist der Mühe wert, dass wir uns die damit gegebenen verschiedenen Einnahmequellen der Gerichtsherren genauer ansehn.
An die Spitze stellen wir uns das Hofgut oder die beiden Hofgüter. Wie wir oben schon sahen, war anfangs nur ein Herrenhof in unserem Dorfe. Er wurde dann in zwei Höfe geteilt. Wahrscheinlich fand diese Zweiteilung erst um 1550 statt, als die Familie Schleier in den Besitz des halben Gerichts Ottrau kam. Verfolgen wir zunächst die Schicksale des Schleierschen Hofes!
Die Schleier bewirtschafteten ihren Hof nicht selbst, sondern verpachteten ihn an einen Hofmann oder Meier. 1593 musste, wie wir hörten, der Meier in den Schafstall ziehn und das Hofhaus Otto Helwig zur Behausung überlassen. Auch als das Gut 1608 aus einem adligen zu einem herrschaftlichen geworden war, wurde es weiter verpachtet. In den bösen Zeiten des 30jährigen Krieges lag der Hof ganz öde. Der Landgraf hätte Ottrau jetzt gern wieder verkauft, und Burkhard von Dörnberg hatte 1629 Lust dazu. Doch unterblieb der Handel. Weil der herrschaftliche Förster Heinrich Bauer den Hof wieder aufriss (urbar machte) und forstverständige Söhne hatte, die den Forst neben dem Vater versehen konnten, so wurde der Hof ihm an 30 Jahre in Pacht gegeben. Sein Nachfolger als Pächter wurde sein Sohn Joh. Balthasar Bauer. Er hatte das Gut für 22 Mött Korn und 22 Mött Hafer, 6 Gulden an Geld und ein Maß Honig. Als dieser 1684 den Hof vor Ablauf der Meierjahre abgeben wollte, bewarb sich der herrschaftliche Förster Haselach um die Pachtung, weil der Hof früher zum Forstdienst gehört habe, und er von seiner Besoldung allein nicht leben könne. Sein Wunsch stieß jedoch auf den Widerstand des Schultheißen Appelius zu Neukirchen. Dieser bestritt in einem Gutachten, dass der Hof früher immer zum Forstdienst gehört habe. Haselach verstehe nichts von der Landwirtschaft. Wenn er jetzt schon nicht auskommen könne, wie wolle es dann gehen, wenn er nun auch noch einen Knecht, Jungen, Schäfer, Viehhüter und zwei Mägde unterhalten müsse? Endlich: Lebe der Förster jetzt schon in Streit mit den Untertanen, was würde für Gezänk entstehen, wenn er sie als Pächter zu Dienste haben sollte?
Da Haselachs Gesuch auf dieses Gutachten hin abgeschlagen wurde, trat im Dezember 1684 ein neuer Pachtliebhaber in der Person des 23jährigen Henrich Ploch vom Volkershof auf, der damals als Knecht auf dem herrschaftlichen Hofe diente. Der unternehmende und offenbar auch vermögende junge Mann stellte drei Bürgen und bot seinem Vorgänger in der Pacht für Pflug, Wagen, Eggen und die ausgesäte Winterfrucht 100 Reichstaler, für 68 Schafe 68 Gulden, für zwei Kühe 14 Reichstaler. Schultheiß Appelius war auch diesem Bewerber anfangs nicht günstig. In einem Gutachten vom Februar 1685 schreibt er über Ploch: „Es scheint, daß ein Männchen hierunter verborgen, der Kerl hat noch nicht geheuratet, und wenn er den Hof nicht bekommt, bekommt er auch die Tochter nicht. Bekommt er den Hof, so soll seiner künftigen Frauen Schwester und Bruder Knecht und Magd, die Mutter Haushälterin sein, und kann endlich der Hof auf die Leute in Ottrau kommen, wenn dieser vermeinte Meier nicht fortkommen sollte.“ Er meint, es sei besser, wenn ein älterer und erfahrener Mann als Pächter auf den Hof komme, der das Gesinde und die Dienstleute zu gouvernieren wüsste, als ein so junger und unerfahrener Kerl. Diesmal drang Appelius aber mit seinen Bedenken nicht durch. Henrich Ploch, der Stammvater der Ottrauer Familie Ploch, wurde Pächter des herrschaftlichen Hofes und wirtschaftete trotz seiner Jugend so tüchtig, dass der Schultheiß bald seines Lobes voll war. Er hielt Land und Wiesen in gutem Wesen und trug seine jährliche Pacht, die anfangs in 23 Mött Korn und 23 Mött Hafer bestand, richtig ab. Als Henrich Ploch 1716 starb, folgte ihm sein Sohn Michael als Pächter. Dieser trat jedoch 1736 von der Verpachtung ab, worauf der Hof fast 50 Jahre lang vom fürstlichen Förster Jakob Ernst Hücker in Pacht genommen wurde. Die längste Zeit scheint er 110 Taler Pachtgeld jährlich bezahlt zu haben. 1758 beschäftigte er 3 Knechte, 4 Mägde, einen Hirten und einen Schäfer. Er hatte 6 Pferde und 4 Stück Schürge-Vieh. Die Gebäude waren in schlechtem Zustande. Das Wohnhaus konnte wegen Baufälligkeit überhaupt nicht bewohnt werden.
Im Jahre 1774 regte der Amtmann Behr zu Neukirchen bei der Behörde an, die Ottrauer Meierei fernerhin nicht mehr zu verpachten, sondern zu vererbleihen. Ottrau habe unfruchtbaren Boden und die Hofdienste seien mit der Speisung der Dienstleute verbunden, weshalb die Pächter nicht viel geben wollten. Konrad Heinrich Hücker, der sich seit einigen Jahren mit seinem Vater Jakob Ernst in die Pachtung teilte, hatte wohl Lust die Zeitpacht in eine Erbpacht zu verwandeln, er bot jedoch der Landesherrschaft so wenig, dass nichts daraus wurde. Ein besseres Gebot tat im Frühjahr 1784 der Fähnrich Franz Scheffer, Burgmann zu Hattendorf. Er bot für den Hof, zu dem damals 124 Acker Land, 47 5/8 Acker wiesen und 7/8 Acker Garten gehörten, einen jährlichen Erbzins von 10 Vierteln Korn, 10 Vierteln Hafer und 38 Talern Geld. Außerdem versprach er ein einmaliges Lehnsgeld von 400 Talern, eine unverzinsliche Kaution von 100 Talern und bei jedem Lehnsfall eine Gebühr von 10 Talern. Daraufhin wurde ihm am 24. Februar 1785 der Erbleihbrief über das seitherige fürstliche Vorwerk ausgestellt. Der Hof wurde nun als herrschaftliches Erbleihgut und Scheffer als herrschaftlicher Erbleihbeständer bezeichnet. Scheffer, der schon in hessischen Zeiten vom Fähnrich zum Leutnant und Hauptmann aufrückte, und der sich in der französischen Zeit den Adel erwarb, scheint zur Landwirtschaft wenig Lust und Zeit gehabt zu haben. Begann er doch schon 1789, sein Erbleihgut an Zeitpächter zu verafterpachten. 1806 übergab er sein „auf Erbleihe habendes Gut“ seiner jüngsten Tochter Dorothea. Von dieser überkam es seine zweitjüngste Tochter Karoline, die mit dem Ottrauer Bauernsohn Johannes Falk verheiratet war. Falk verkaufte das Gut wieder an den aus Hattendorf stammenden Bauer Heinrich Merle. Dieser hatte es anfangs auch noch als Erbleihgut, seit der Aufhebung des Lehnswesens 1851 aber als freies Eigentum. Merle teilte das Gut dann nochmals unter zwei seiner Söhne. Fürwahr ein wechselvolles Schicksal, das dies Gut gehabt hat. 1551-1608 adlig Schleierscher Hof, 1608-1785 herrschaftliche Domäne, 1785 bis 1851 herrschaftliches Erbleihgut und nun zwei freie Bauerngüter!8
Solche Veränderungen hat das zweite hiesige Hofgut nicht durchgemacht. Es gehört seit 1577 bis auf den heutigen Tag der Familie von Schwertzell, die es allezeit verpachtet hat. Die v. Schwertzellsche Hofreite lag anfangs neben der Nordseite der Kirche. An der Stelle, wo heute der Gemüsegarten des V. H. Merle liegt, stand das Meierhaus, d. h. das Wohnhaus des Pächters. Da, wo sich jetzt das Battenbergsche und Kohlsche Anwesen befinden, standen Scheune und Stallung. Die v. Schwertzellsche Hofreite lag also unmittelbar neben der Schleierschen und späteren herrschaftlichen, nur durch den vom Pfaffenborn zur Burg laufenden Fahrweg davon getrennt. 1729 brannte diese Hofreite ab. Nur ein Stück des Meierhauses blieb stehen und wurde, nachdem es durch den Dienst der v. Schwertzellschen Hintersassen wieder zurechtgemacht war, vererbleiht, zuletzt an Kaspar Muhl. Der übrige Platz, wo Scheune und Stallung gestanden hatten, wurde zunächst als Garten eingezäunt. Dafür wurde dann 1731 an einer ganz anderen Stelle des Dorfes, bei der Zehnt- und Schafscheuer, die heutige v. Schwertzellsche Hofreite angelegt und auferbaut. Die Ackerzahl des stellbaren Landes nahm beim v. Schwertzellschen wie auch beim herrschaftlichen Gute im Laufe der Zeit zu, indem bewaldete oder wüst liegende Flächen hinzugerodet oder kleine Güter angekauft wurden. 1695 gehörten zum Gute 84 Morgen und 20 Mesten urbares Land und eine Wiesenfläche von 21 Wagen Heu. Nach der „Spezialbeschreibung der Dorfschaft Otter“ vom Jahre 1750 hatte der Hof 111 Acker Land, 60 Acker Wiesen, 4 Acker Garten und 95 Acker Waldung. 1822 wird das stellbare Land auf 133 3/8 Acker berechnet. Mit der Menge des urbaren Landes stieg dann im Laufe der Zeit auch das von den Pächtern zu zahlende Pachtgeld.9
Noch unmittelbarer als die verpachteten Hofgüter nutzten die Gerichtsherren den Wald, die Jagd und die Fischerei aus. Abgesehen vom Sebbel, den der ältere Helwig von Rückershausen 1525 der Abtei Hersfeld abgekauft hatte, und der deshalb seinen Rechtsnachfolgern Schleier und Landsherrschaft allein gehörte, war der ganze Wald um Ottrau und Ropperhausen ein gemeinsamer Besitz der beiden Gerichtsherren, sog. Gesamtwald. Im Jahre 1822 wird die Größe dieses Gesamtwaldes auf 3532 Acker angegeben. Dazu kamen die damals noch unvermessenen Waldorte Helwigsholz und Bauernstrauch. Diese waren auf Befehl der hessischen Regierung unvermessen geblieben, weil ihre Zugehörigkeit zum Gericht Ottrau bestritten war. Während nämlich die Landesherrschaft und v. Schwertzell die beiden Waldorte für sich beanspruchten, behaupteten die Herren von Diede, sie gehörten zu Immichenhain. Besonders war in den Jahren 1747 und 48 darüber verhandelt, wobei sich Landesherrschaft und v. Schwertzell auf das Ottrauer Saalbuch von 1580, die von Diede aber auf ihren Grenzberitt und -begang von 1577 beriefen. Zu einer gerichtlichen Entscheidung kam es nicht. Doch blieben das Helwigsholz und der Bauernstrauch bei dem Ottrauer Gesamtwalde.
Dieser Wald brachte den Gerichtsherren vor allem ansehnliche Einkünfte aus verkauftem Holze. Andere Erträge ergaben sich aus dem Brennen von Holzkohlen, das schon zur Zeit Otto Helwig Schleiers im hiesigen Walde geübt wurde, und aus der Teerbrennerei, die gleichfalls in unserem Walde üblich war. Von 1825 bis 28 hatte z. B. Peter Herget von Ottrau die Erlaubnis, im Walde Teer zu brennen. Das Brennen musste in einem höchstens 10 Fuß hohen und 4 Fuß weiten Ofen geschehen. Zur Verbrennung durfte er nur die von gefällten Nadelholzstämmen stehen gebliebenen Stöcke verwenden. Von jedem Brande hatte er 3 Taler an die Renterei zu bezahlen. Alle diese Einkünfte aus dem Walde flossen halb in die herrschaftliche und halb in die von Schwertzellsche Kasse, wie denn die ganze Bewirtschaftung des Gesamtwaldes gemeinschaftlich war.
Ebenso wie mit dem Walde stand es mit der Jagd und Fischerei. Die hohe Jagd auf Hirsche, Rehe, Wildschweine und Auerhähne und die niedere Jagd auf Hasen, Füchse, Rebhühner u. dergl. stand den beiden Gerichtsherren gemeinsam zu. Das gefällte Hochwild, mochte es vom fürstlichen oder vom Schwertzellschen Förster geschossen sein, wurde in gleiche Teile geteilt und verschickt. Die niederen Jagden wurden an jeden Gerichtsherren mit Garnen, Hetzen und Treiben für sich ausgeübt. So war es 1695. Später änderte sich einiges. So verzichteten die Herren von Schwertzell nach 1695 ganz auf die Auerhahnsjagd und erhielten dafür das alleinige Recht, in der Grenf von der Steinmühle bis nach Nausis Forellen zu fischen. 1750 stand ihnen auch die Fischerei in der Otter, die Krebse, Forellen und Grundeln hegte, allein zu. Auf der Herbstjagd 1763 wurde der Treiber Friedrich Völker vom Forstlaufer Fuchs ins Auge geschossen, sodass er scheel wurde. Zum Schadenersatz wurde ihm von Schwertzellscher Seite das Lehn- und Einzugsgeld erlassen. Ebenso wurden dem Fuchs die bezahlten Kurkosten zurückerstattet und, „weil er sich über dies Versehen so höchlich erschrocken, von Ihro Gnaden dem Herrn Oberforstmeister von Schwertzell ein Scheffel Korn geschenkt“.10
In unmittelbarer, gemeinsamer Verwaltung hatten die Gerichtsherren ferner die Ottrauer Wirtschaft, die daher auch Gesamtwirtschaft hieß. Das war sie nicht immer gewesen. Vielmehr hatte die Wirtschaft ursprünglich der Gemeinde gehört, und diese hatte darin durch einen Pächter Wein, Bier und Branntwein versellet (verkauft). Nachdem aber diese Gemeinschenke im 30-jährigen Kriege eingeäschert war und von der Gemeinde damals nicht hatte wieder aufgebaut werden können, war das Schankrecht dem Landgrafen und von Schwertzell gütlich abgetreten worden. Die ließen dafür dann ein neues Wirtshaus bauen und setzten einen Pächter hinein, der darin zu seinem eignen Nutzen das Bierbrauen, -verzapfen und den Branntweinschank betrieb. Das gefiel jedoch der Gemeinde schlecht. Sie hätte den Gewinn aus der Wirtschaft gern selber wieder gehabt. Deshalb reichte sie Ende 1654, als eine Neuverpachtung bevorstand, ein Gesuch an die Rentkammer zu Cassel ein. Darin schildern die Bittsteller erst ihre bedrängte Lage. Sie arme Leute seien mit Kontribution und anderen herrschaftlichen Lasten hart beschwert und wüssten fast nicht, wie sie diese aufbringen sollten. Sie zögen zwar etwas Gerste auf ihren Feldern, da aber verboten sei, Frucht außer Landes zu verkaufen, so müssten sie ihre Gerste zur Abtragung monatlicher Kontribution billig und oft auf jahrelangen Borg in die angrenzenden Orte verkaufen. Dadurch gerieten sie dergestalt in Armut, dass sie sich kaum daraus retten könnten. Man möge also den Ottrauer Bier- und Brandweinzapfen der Gemeinde verpachten, damit die Einwohner ihre eigne Frucht verbrauen und zu Gelde machen könnten. Dann würde nicht der seitherige Pächter allein aufkommen, sondern die ganze Gemeinde in dieser geldklammen Zeit erhalten werden.
Aber so beweglich die Bitte auch vorgetragen war, sie scheint doch ohne Erfolg geblieben zu sein. Wenigstens finden wir die Wirtschaft in der Folgezeit immer wieder an Privatpersonen verpachtet. So wird 1676 die Witwe des Försters Bauer auf drei Jahre Wirtin. Es wird ihr zur Pflicht gemacht, den Bierschank jederzeit mit gutem, tüchtigem und unverfälschtem Biere zu versehen und das Bier zu einem billigen Preise und gerechtem Maße, wie ober, unter und neben ihr bräuchlich, zu geben. Von 1679 an finden wir die Wirtschaft 49 Jahre lang in den Händen der Familie Lippert. Als Johannes Lippert 1679 die Pacht antrat, wurde ihm neben dem Bier- und Fruchtbranntweinschank ausdrücklich auch die Bierbrauerei und das Herbergieren übertragen. Die Ab- und Zureisenden sollte er mit aller Notdurft an Essen und Trinken versehen, ihnen auch mit willfähriger Bedienung unter Augen gehen. Den Branntwein sollte er in Ottrau von den konzessionierten Fruchtbranntweinbrennern nehmen, die bei Strafe an keine einzelnen verkaufen durften. Der junge Pächter starb aber schon nach einem Jahre. Sein Vater Hans Kaspar Lippert wurde sein Nachfolger. Er erhielt auch den Weinschank. Zwei beeidigte Männer aus dem Gericht Ottrau sollten das frische Bier auf seine Menge und Güte untersuchen. Nach Hans Kaspar Lippert hatte dessen anderer Sohn Sebastian die Wirtschaft noch 43 Jahre (1685 bis 1728) in Pacht. Ihn lernten wir schon als einen Genossen des Pfarrersohnes Heinrich Knabenschuh kennen, von dem er später auch eine Schwester heiratete. Bast Lippert scheint zu seiner Zeit eine wichtige Persönlichkeit in Ottrau gewesen zu sein. Wird ihm im Kirchenbuch doch einmal auch der damals sehr seltene Ehrentitel „Herr“ verliehen!
Aus den 30 Jahren nach Lipperts Tode ist über die Wirtschaft und die Wirte nicht Besonderes zu vermelden. Umso wichtiger wurde aber das Jahr 1759, weil da am 4. Februar in der Morgenfrühe das Wirtshaus in Flammen aufging. Am Abend vorher war eine Anzahl Burschen und Mädchen im Wirtshaus gewesen. Joh. Heinrich Schreiber hatte auf der Violine gespielt, und die jungen Leute hatten getanzt. Als der Wirt Bernhard Quehl um 12 Uhr von einer Hochzeit nach Hause kam, verbot er sogleich das Tanzen, weil es schon so spät sei. Um 1 Uhr gingen die letzten Zechleute nach Hause, und um 3 Uhr begann der Brand. Weil der Wirt sah, dass er kein Unser Vater mehr Zeit hatte, sich zu retten, sprang er, sein ¼ Jahr altes Kind auf dem Am, zum Fenster hinaus und jagte im Hemd das Vieh aus dem Stalle. Seine Frau folgte ihm auf demselben Wege. Der Knecht sprang vom Futterboden, wo er schlief, auf den Misthaufen und schlug Lärm. Weniger gut erging es der Magd A. Kunigunde Lindemann. Sie sprang aus einem Fenster der Gerichtstube, auf der sie geschlafen hatte, zwei Stockwerke hoch hinab und musste längere Zeit zu Bett liegen. Am schlimmsten erging es aber dem Kindermädchen Anna Elisabeth Hahn von hier und dem Dienstmädchen Anna Katharina Hörner von Görzhain, die beide ums Leben kamen. Der Wirt meinte, als die Sache später gerichtlich untersucht wurde, zwei Reisende hätten das Feuer aus Unvorsichtigkeit angesteckt. Einer davon war ein Leineweber aus Fulda, der mit einem Pack striesigten Zeugs auf den Markt nach Volkmarsen wollte. Es ließ sich jedoch nichts beweisen. Das Wirtshaus war und blieb abgebrannt und wurde auch nicht wieder aufgebaut.
Zunächst wanderte die Wirtschaft 20 Jahre lang im Dorfe umher, indem sie in die Häuser der jeweiligen Pächter verlegt wurde. Die längste Zeit hatte sie so der Kodenbauer Joh. Heinrich Wettlaufer in Pacht. Der arme Mann kam jedoch auf keinen grünen Zweig dabei. Er war schon von Haus aus ein „äußerst verarmter Untertan“ und hatte von Bier oder Branntwein wenig oder gar keine Losung. Das hatte verschiedene Ursachen. Einmal war der Fremdenverkehr sehr schwach. Heißt es doch auch in der Spezialbeschreibung der Dorfschaft Otter von 1750: Keine sonderliche Landstraße geht durch dies Dorf und passieren wenig Reisende durch dasselbe, maßen die passage von Ziegenhain nach Schlitz usw. nicht stark ist. Sodann besuchen die Ottrauer selbst löblicher Weise das Wirtshaus nur wenig. Dazu kostete 1771 das Ziegenhainer Mött Gerste 5 Reichstaler. Über dem allen kam Wettlaufer so herunter, dass er nicht einmal immer die nötigen Getränke bereithalten konnte, sondern, wie ihm die Ortspolizei bescheinigte, die Wirtschaft vertrocknen lassen musste. Natürlich konnte er auch seine Pacht nicht bezahlen und musste heilfroh sein, als er vor Ablauf seiner Pachtzeit einen Nachfolger fand.
1775 kauften die Gerichtsherren das dem abgebrannten und nicht wieder aufgebauten Wirtshaus gegenüber liegende Haus des Juden Levi Goldschmidt an und richteten es zum Wirtshause ein. In diesem angekauften Hause betrieben dann noch mehrere Zeitpächter die Wirtschaft, bis sie am 1. Juni 1803 dem Joh. Jost Franck aus Immichenhain in Erbleihe gegeben wurde. Aus dem Erbleihbrief erfahren wir nicht nur, was Franck zu bezahlen hatte (ein einmaliges Lehnsgeld von 1202 Reichstalern und einen jährlichen Erbzins von 62 Talern), sondern auch von den Vorrechten seiner Wirtschaft. Diese war von allen Diensten frei, ja das Gericht Ottrau musste Spann- und Handdienste dazu leisten. In Ottrau durfte kein Nebenschank errichtet werden, und der Wirt in Berfa musste das Bier vom Gesamtwirtin Ottrau nehmen. Bei der Ablösung der Lehnspflicht im Jahre 1851 wurde Francks Schwiegersohn Georg Heinrich Knoch aus einem Erbleihbeständer zum freien Eigentümer der Wirtschaft. Mit dieser nahm es also denselben Verlauf wie mit dem herrschaftlichen Hofgut.11
In unmittelbarer eigner Verwaltung hatten die beiden Gerichtsherren endlich noch eine Reihe von Gestattungen, mit denen Einnahmen verbunden waren. Umstritten war, ob dahin die Erlaubnis zum Branntweinbrennen gehörte. Im Jahre 1688 hatten Kurt Diederich und Johannes Pfalzgraf von Ottrau von dieser Erlaubnis 3 Gulden in die Renterei Neukirchen bezahlt, weigerten sich aber, denselben Betrag auch an die von Schwertzellsche Renterei zu entrichten. Da ließ ihnen der v. Schwertzellsche Schultheiß zwei Stück Rindvieh abpfänden. Als sie sich darüber bei der Regierung beschwerten, wurde zwar die Rückgabe der Tiere verfügt, aber nur gegen Kaution. Damit gab die Regierung dem v. Schwertzellschen Schultheiß in der Sache nicht Unrecht und erkannte scheinbar an, dass die Brennereikonzession den Gerichtsherren gemeinsam zustehe. Doch hatte diese Anerkennung keine praktischen Folgen. In den v. Schwertzellschen Lehnsbeschreibungen wird von 1695 bis 1822 darüber Klage geführt, dass die Landesherrschaft das Branntweinbrennen einseitig gestatte und die von dieser Gestattung fallenden Einkünfte allein einnehme.
Dagegen waren einige andere Erstattungen den Gerichtsherren unzweifelhaft gemeinsam. So die Erlaubnis zum Kalk- und Ziegelbrennen, wovon Stempel- und sonstige Gebühr und ein jährlicher Zins halb an die herrschaftliche und halb an die von Schwertzellsche Renterei zu zahlen war. So auch die Erlaubnis an Auswärtige und Juden, sich im Gericht Ottrau niederzulassen und darin zu wohnen, wovon jene jedem Gerichtsherren einen Taler Einzugsgeld und diese das sogen. Judenschutzgeld zu bezahlen hatten. Schließlich ist hier noch die Erlaubnis zur Abhaltung des sogen. Kirmesspiels zu erwähnen, die an den Meistbietenden in der Regel auf drei Jahre verpachtet wurde. Es war ein Würfelspiel, das während der Kirmestage abgehalten wurde. Wer Glück hatte, gewann Brezeln, Porzellan, Gläser, Messer, Krüge, Eimer und sonstige kleine Ware. In der älteren Zeit scheinen in der Regel die Mitglieder der Neukircher Schützenkompanie dies Spiel gepachtet zu haben, zuletzt aber pflegten es kleinere Leute aus Ottrau selbst abzuhalten. 1833 wurde dem Pächter zur Pflicht gemacht, keine verfälschten Würfel zu gebrauchen, den Einsatz nicht über 2 Kreutzer zu erhöhen und kein sogen. Bankospiel zu treiben.12
Die Hofgüter, den Wald, die Jagd und Fischerei, die Wirtschaft und die mancherlei Gestattungen hatten die Gerichtsherren in unmittelbarer eigner Verwaltung. Das war aber bei weitem noch nicht alles, was ihnen im Gerichtsbezirk Ottrau gehörte und zustand. Vielmehr waren sie für die Versehung des Richteramtes außerdem noch mit dem größten Teile der Gemarkungen der Gerichtsdörfer belehnt. Diesen Teil ihres Lehens verwalteten und verwerteten sie nicht unmittelbar, sondern mittelbar, indem sie ihn den Einwohnern von Ottrau, Ropperhausen, Sachsenhausen und Berfa gegen mancherlei dringliche und persönliche Leistungen liehen. Diese Leistungen, die die Gerichtsherren von den Bewohnern unserer Dörfer zu beanspruchen hatten, bestanden in barem Geld, Feldfrüchten, Vieh und Diensten. Sie spielten in der Vergangenheit eine so wichtige Rolle, dass wir sie im einzelnen betrachten müssen.
Blicken wir zuerst auf die Geldleistungen, die die Gerichtsherren zu fordern hatten! Sie zerfielen in ständige, d. h. alljährlich sich wiederholende, und unständige. Zu den ständigen Geldleistungen gehörte das sogen. Weinfuhrgeld, das auf den größeren Bauerngütern haftete, und der unter verschiedenenen Namen auftretende Grundzins, den die Lehnsleute bald von ihren Gütern im Ganzen, bald von bestimmten einzelnen Grundstücken zu zahlen hatten. So bezahlte Heinrich Eisenach in die von Schwertzellsche Renterei von seinem „Kodengut“ 9 Albus jährlichen Zins und 4 Albus Weinfuhrgeld, außerdem von vier Wiesen jährlichen Grundzins und von seinem Erbrottland vor dem Hegestrauch und auf den langen Birken jährliches Rottgeld.
Zu den unständigen Geldleistungen gehörte das sog. Lehngeld nebst Lehngebühr. Diese Leistung hing mit dem Umstande zusammen, dass die Lehen in Ottrau „keine gewisse und ständige, sondern Teidungslehen“ waren. Sie waren nicht auf immer, sondern nur auf Lebenszeit ausgeliehen und mussten bei einem Todesfall gegen Lehngeld und Lehngebühr erneuert werden. Und zwar mussten, wie es in einem alten von Schwertzellschen Register heißt, die Ottrauischen Untertanen sowohl auf den Fall des Lehnsherren wie auf den Fall des Lehnsträgers teidigen13 und das Lehn empfangen. D. h. wenn ein Gerichtsherr starb, mussten alle seine Hintersassen ihre Güter von seinem Nachfolger gegen Lehngeld und -gebühr aufs neue empfangen, und wenn ein belehnter Bauer oder kleiner Mann starb, musste sich dessen Sohn das Erbe gegen dieselben Abgaben neu übertragen lassen. Auch diese unständige Geldleistung war teils von den Gütern im ganzen, teils von einzelnen Grundstücken zu entrichten. So hatte Joh. Jost Ploch an die von Schwertzellsche Renterei von seinem „Fahrgut“ „auf jeden Fall“ 5 Reichstaler 20 Albus Lehngeld und daneben von seinem „Erbland“ am Lingelbacher Wege „auf jeden Fall“ 9 Albus 4 Heller Lehngeld und 2 Albus 8 Heller Lehngebühr zu bezahlen.14
Nächst diesen Geldabgaben hatten die Gerichtsherren von ihren Lehnsleuten die Lieferung von Feldfrüchten zu fordern. Auch diese Gefälle lassen sich in ständige und unständige einteilen. Die Fahrbauern und ein Teil der Kodenbauern hatten alljährlich eine bestimmte Korn- und Haferabgabe zu leisten, und zwar die auf herrschaftlicher Seite wohnenden an die Landesherrschaft und die auf Schwertzellscher Seite wohnenden an die Herren von Schwertzell. So musste Joh. Jost Ploch ebenso wie Bürgermeister Knoch an v. Schwertzell jedes Jahr 1 Mött partim liefern, d. h. 8 Metzen Korn und 8 Metzen Hafer.15 Das Steinsche und das Gemeindegut hatten jedes 14 Metzen partim, also 7 Metzen Korn und 7 Metzen Hafer, an dieselbe Stelle abzugeben. Ebensoviel haftete auf dem Stumpfschen Kodengut, während das Geißelsche nur zu 1 Metze Korn und 2 Metzen Hafer verpflichtet war. Aus dem ganzen Gericht Ottrau, d. h. aus den Dörfern Ottrau, Berfa, Ropperhausen und Sachsenhausen bezogen die Herren von Schwertzell 1822 5 Mött 14½ Metzen Korn und 17 Mött 5½ Metzen Hafer. Die Landesherrschaft wird von ihren Lehnsleuten ungefähr ebensoviel Korn und Hafer bezogen haben, doch fehlen mir die Belege dafür.
Zu dieser ständigen Korn- und Haferlieferung kam der Zehnte hinzu. Die Zehntpflichtigen mussten von je 11 Getreidearten eine an die Gerichtsherren abgeben. Doch ruhte diese Abgabe nicht auf der ganzen Feldflur. Die ältesten Teile der Gemarkung, also die in den „Gewannen“ liegenden Ländereien, die meist den Fahr- oder Hufenbauern gehörten, waren frei davon. Nur das am Rande der Gemarkung liegende jüngere Rottland, das zumeist die Kodenbauern und geringere Leute innehatten, und das sich Ottrau 1836 auf 635 3/8 Acker belief, war zehntbar. Daher wird der Zehnte auch genauer der Rottzehnte genannt. Im Unterschiede von den obigen Korn- und Haferlieferungen war der Zehnte eine unständige Abgabe. Denn wenn er auch alljährlich zu leisten war, so war sein Ertrag doch von unbestimmter Größe und je nach dem Ausfall der Ernte in den einzelnen Jahren sehr verschieden. So wurde der Wert der von Schwertzellschen Hälfte im Missjahre 1714 auf 4 Mött Korn und 8 Mött Hafer geschätzt, in dem guten Jahre 1715 aber auf 18¼ Mött Korn und 23 Mött Hafer.
Wie der Ertrag, so war auch die Erhebungsweise des Zehnten in den einzelnen Jahren verschieden. Zuweilen vermalterten (verkauften) die Gerichtsherren ihn auf dem Halme an den Meistbietenden. Der Grebe machte in solchen Fällen den Termin unter öffentlichem Glockenschlag bekannt, und dann fand die Vermalterung in der Verhör- oder Gerichtsstube der Wirtschaft statt. Dabei kam es vor, dass die Leute sich aus Neid zu ihrem Schaden „hoch strichen“, aber auch, dass sich keine Kaufliebhaber einfanden. Kam der Verkauf zustande, so wurde der Preis bald in Frucht, bald in barem Geld an die Gerichtsherren bezahlt. So wurde die v. Schwertzellsche Hälfte des Ottrauer Getreidezehnten am 10. Juli 1706 für 6 Mött Korn und ebensoviel Hafer vermaltert „gute, reine, marktgültige Frucht zwischen Michaelis und Martini Tag einzuliefern, vorbehaltlich – da Gott vor sein wolle! – Verheerung und Hagelschlag“. Dagegen wurde dieselbe Hälfte des Zehnten 1819-21 für bare 110 Reichstaler jährlich verpachtet.
Fanden sich beim Termin keine Kaufliebhaber oder boten sie zu wenig, dann blieb den Gerichtsherren nichts anderes übrig, als den Zehnten selbst in Natur einzuheimsen. In diesem Falle ließen sie die Garben vom Zehntfelde in die Ottrauer Zehntscheuer einfahren und darin dreschen und verkauften dann das Ausgedroschene und das Stroh. So geschah es z. B. 1754. In diesem Jahre ergab die v. Schwertzellsche Hälfte des Zehnten in Ottrau und Ropperhausen 8 Fuder 2½ Garben Korn, 23 Garben Winterweizen, 10 Garben Sommerweizen, 30 Garben Gerste, 40 Garben Erbsen, 6 Fuder 9 Garben Hafer.
Eine wichtige Rolle bei der Erhebung des Zehnten spielte der sogen. Zehntmann oder Zehntlaufer. Hätte man die Pflichtigen bei Ablieferung des Zehnten sich selbst überlassen, dann hätten sie es vielleicht immer so gemacht, wie Förster Stamm im August 1755 klagt: „Gestern haben Leute gebunden in dem Feld, das der Zehntlaufer Kaspar Knauf zu begehen hat, und haben zum Zehnten liegen gelassen, was sie gewollt“. Um sich vor solchem Nachteil zu schützen, nahmen die Gerichtsherren einen oder auch zwei Zehntlaufer an. Diese wurden eidlich verpflichtet, die Interessen ihrer Auftraggeber zu wahren. Sie mussten das Zehntfeld in der Erntezeit begehen, alle Früchte treulich aufschreiben und einsammeln. Um den Zehntmännern ihren Dienst zu erleichtern, mussten die Leute ihnen melden, wann sie Garben binden wollten. Als Lohn erhielt der Gesamtzehntsammler Knauf 1753 von jedem Fuder Zehntgetreide 8 Albus.
Neben dem Zehnten vom Getreide, der auch der große Zehnte hieß, erhoben die Gerichtsherren auch noch den kleinen Zehnten von der sogen. Tressenei, d. h. von den Früchten des Brachfeldes wie Flachs, Kraut, Rüben, Kartoffeln, Grünfutter, Samen, Hirse. Dieser kleine Zehnte scheint zuweilen in Natur, noch öfter aber in Geld gegeben zu sein. 1746 gaben die Pflichtigen von der Meste Land je 1 Albus Zehntgeld an die Landesherrschaft und an v. Schwertzell. 1791 brachte der Tresseneizehnte in Ottrau jedem der beiden Gerichtsherren 5 Taler 5 Albus ein. Dabei galt die Metze Kraut 1 Albus 4 Heller, die Metze Kartoffeln ebensoviel.16
Mit dem Ackerbau ging auf unseren Dörfern von jeher die Viehzucht Hand in Hand. Wir wundern uns daher nicht, wenn wir sehen, dass die Gerichtsherren neben Feldfrüchten auch Erzeugnisse der Viehzucht zu beanspruchen hatten. Die Hauptrolle spielte dabei das Federvieh. Jeder Hausbesitzer im Gericht Ottrau hatte alljährlich ein Huhn (oder statt dessen 3 Albus in Geld) zu entrichten. Weil diese Hühner von den Feuerstätten oder Rauchfängen gegeben wurden, hießen sie Rauchhühner. Weil sie um Fastnacht geliefert wurden, pflegte man sie auch Fastnachtshühner zu nennen. Unbewohnte Häuser waren von der Abgabe frei. 1695 betrug die Zahl der Fastnachtshühner aus dem ganzen Gericht 93. Davon waren aus Ottrau 48, aus Berfa 38 und aus Ropperhausen 7. Landesherrschaft und von Schwertzell teilten sich gleichmäßig in das Ergebnis, sodass jeder 46½ Huhn bekam. Gleich dem Huhn war auch der Hahn ein Zinsvogel. 1695 bezogen die Herren von Schwertzell aus Ottrau 37, aus Berfa 19 und aus Ropperhausen 2 Hähne. Meist wurden sie von bestimmten Gärten gegeben. Sie waren im Herbst zu liefern, in der Zeit, wo das Laub fällt und gesammelt wird. Davon hießen sie hier Laubhähne. Wer den Hahn nicht in Natur liefern mochte, hatte 1 ¾ Albus dafür zu bezahlen. Neben Hühnern und Hähnen treten Gänse stark zurück. Ein v. Schwertzellsches Register von 1822 verzeichnet nur zwei Zinsgänse. In Geld war jede auf 7 Albus veranschlagt.
Ein wichtiges Zinstier war ferner das Schaf. Für die Benutzung der Hute in Feld und Wald hatten die Schafhalter alljährlich von je 30 Stück eins als Weid- oder Trifthammel an die Gerichsherren abzugeben. Von den einzelnen Schafen, die die Zahl 30 nicht erreichten, wurden je 4 Heller bezahlt. Wer also 62 Schafe hielt, musste davon 2 Weidhämmel und 8 Heller entrichten. Doch konnte man auch die Hämmel statt in Natur in Geld geben, dann waren für jeden 1 2/3 Taler zu bezahlen. Den Erlös teilten sich die Landesherrschaft und die Herren von Schwertzell zu gleichen Teilen. Die Erhebung dieser Abgabe fand an einem von den beiden Rentmeistern festgesetzten Sommertage statt. Man nannte sie den Hammelschnitt, weil der 30. Hammel aufs Kerbholz geschnitten wurde.
Neben diesen Abgaben an Federvieh und Hämmeln ist auch eine Fleischlieferung zu erwähnen. Die im Gericht Ottrau wohnhaften Juden mussten von jedem zum Verkauf geschlachteten Stück Rindvieh die Zunge oder statt deren 4 Albus in Geld an die Gerichtsherren abgeben. Die auf herrschaftlicher Seite wohnenden mussten die Zunge dem Greben bringen, der sie an die Renterei Neukirchen ablieferte, die auf v. Schwertzellscher Seite wohnenden hatten sie beim v. Schwertzellschen Förster für die Willingshäuser Renterei abzugeben. Diese Abgabe machte den Juden wenig Freude, und sie suchten sich ihr gern zu entziehen. Schon 1737 weigerte sich der herrschaftliche Schutzjude Plaut, die Rinderzungen abzuliefern. Er wurde jedoch durch Fürstlichen Befehl aus Cassel dazu angehalten, wobei darauf hingewiesen wurde, dass die Juden auf v. Schwertzellscher Seite dieselbe Pflicht hätten. 70 Jahre später, in der westfälischen Zeit, kam diese Zungenlieferung, wie so mancher alte hessische Brauch, in Wegfall. Als 1814 das hessische Staatswesen von neuem eingerichtet war, mussten sich zwar die auf herrschaftlicher Seite wohnenden Juden alsbald wieder zu der unangenehmen Abgabe verstehen. Die auf v. Schwertzellscher Seite sitzenden weigerten sich aber, die Zungen wieder zu liefern, weil inzwischen die Herren von Schwertzell mit der Patrimonialgerichtsbarkeit den Rechtsgrund für die Zungenlieferung verloren hätten und die Juden durch Verordnung vom 14. Mai 1816 gleiche Rechte und Pflichten mit den christlichen Untertanen erlangt hätten. Darüber kam es in den zwanziger Jahren zu mehreren Prozessen. Diese fielen nach mehrjähriger Dauer alle zugunsten der Familie von Schwertzell aus. Zwar entschied das Obergericht zu Marburg am 1. Mai 1826, v. Schwertzells Anspruch an Salomon Plaut zu Ottrau wegen Zungenlieferungen sei zurückzuweisen, weil er den Grund der Verpflichtung zu jener Abgabe in Plauts Eigenschaft als Jude gesetzt habe, während doch die Stellung der Juden als bloßer Schutzverwandter und die damit verknüpften persönlichen Abgaben seit 1816 aufgehört hätten. Als dann aber der Kläger von Schwertzell nachwies, ursprünglich hätten alle Bewohner des Schwertellschen Grundes und Bodens in Ottrau die Rinderzungen an ihn liefern müssen, wenn sie Rindvieh zum Verkauf schlachteten, und diese Abgabe habe nur dadurch den Anschein einer Judenabgabe erlangt, weil seit vielen Jahren eben nur die Juden noch zum Verkaufe schlachteten, da hatte er den Prozess gewonnen, und die Juden mussten ihre Rinderzungen bis zur gesetzmäßigen Ablösung dieser Last entrichten. Das hatte seinen Grund darin, dass den adligen Gerichtsherren beim Verlust ihrer Gerichtsbarkeit durch Regierungsschreiben vom 7. März 1814 der Fortbezug aller mit der Gerichtsbarkeit verknüpfter Nutzungen außer den Sporteln und Gerichtsbußen ausdrücklich zugesichert war.
Als Abgabe aus dem Tierreiche, die die Gerichtsherren zu fordern hatten, ist endlich noch die Wachslieferung zu nennen, die einigen Einwohnern unseres Gerichtes oblag. 1695 waren aus Ottrau und Ropperhausen 2 Pfund Wachs an v. Schwertzell zu liefern. 1822 wurde diese Abgabe nicht mehr in Natur, sondern in Geld geleistet.17
Die Gerichtsherren hatten nun aber von ihren Lehnsleuten nicht nur dingliche Leistungen an Geld und Erzeugnissen des Ackerbaues und der Viehzucht zu fordern, sondern hatten auch ein Anrecht auf deren persönliche Arbeitsleistung, die sog. Dienste. Die Fahrbauern und die Kodenbauern von Ottrau, Berfa und Sachsenhausen waren halb der Landesherrschaft und halb der Familie von Schwertzell zu Diensten verpflichtet. Ebenso wie die Bauern waren auch die sogen. Einzelnen, d. h. die kleinen Leute, halb herrschaftliche und halb v. Schwertzellsche Dienstleute. Nur Ropperhausen war dienstfrei.
Die Dienste zerfielen in gemessene, d. h. alljährlich in gleichem Unmfang sich wiederholende, und ungemessene, die nicht so regelmäßig wiederkehrten. Gemessene Dienste hatten nur die Fahrbauern, Kodenbauern und Halbkodenbauern. Worin bestanden sie? In landwirtschaftlichen Arbeiten, die die einen auf dem herrschaftlichen und die anderen auf dem v. Schwertzellschen Hofe zu verrichten hatten. Jedes Fahrgut musste alljährlich 4 Tage ackern, 1 Tag düngen, 4 Tage Korn schneiden, 1 Tag Gras mähen, 2 Tage Hafer rechen, 2 Morgen dreschen, 2 Stock Frucht einfahren und auf Verlangen einen Wagen Frucht höchstens 2 Meilen weit fahren. Die vier v. Schwertzellschen Fahrgüter mussten außerdem ein jedes alljährlich 4 Tage am Flachs arbeiten, nämlich den Flachs rupfen und reffen, auf die Wiesen breiten, brechen und schwingen. Nicht so viel wie die Fahrgüter hatten die Kodengüter zu leisten. Jedes musste für einen der beiden Höfe 4 Tage Korn schneiden. 1 Tag mähen, 2 Tage Hafer rechen und 2 Tage dreschen. Noch weniger Dienste hatten die halben Kodengüter zu verrichten. Jedes musste 2 Tage Frucht schneiden, 1 Tag mähen, 2 Tage rechen und 1 Tag dreschen. Die v. Schwertzellschen Kötner und Halbkötner mussten außerdem gleich den Fahrbauern jeder 4 Tage am Flachs arbeiten.
Während diese gemessenen Dienste nur die größeren und kleineren Bauern angingen, waren an den ungemessenen alle Einwohner beteiligt. Die Fahrbauern mussten, wenn es not tat, im Jahre einen Wagen voll Baumaterialien, Dörner und dergl. fahren. Die Kötner, Halbkötner und „Einzelnen“ waren im Jahr zu einem Botengang und zu eintägigen Handdiensten, wie Dörnerhauen, Heckenbinden, Bauarbeiten usw. verpflichtet. Die Botengänge waren in die Nähe und Ferne zu tun. In Fulda gab es manchmal eine Kötze voll Lichter zu holen, in Marburg Bücher und so fort. Wer den Botengang nicht gehen mochte, konnte ihn in Geld bezahlen.
Diese gemessenen und ungemessenen Dienste hatten für die Gerichtsherren und ihre Gutspächter einen hohen Wert. Sie bedeuteten eine große Ersparnis an bezahlten Arbeitskräften. Vermindert wurde der Wert der Dienste allerdings dadurch, dass sie nicht ganz umsonst, sondern gegen Verköstigung geschahen. Auch diese Verköstigung war genau festgesetzt. So bekamen die Bauern beim Einfahren der zwei Schock Frucht, beim Überfeldfahren des Wagens Frucht und bei der Arbeit am Flachse jedes Mal einen halben Laib Brot. Wenn sie Hafer rechten oder druschen, erhielten sie mittags Hausmannskost und einen halben Laib Brot. An den Acker- und Düngetagen gab es Frühstück, mittags Hausmannskost und einen halben Laib Brot. Besonders hoch gings aber her, wenn Gras gemäht oder Korn geschnitten wurde. An den Mähetagen gab es morgens Suppe und einen Pfannkuchen, mittags Erbsensuppe mit Sauerkraut und einem halben Pfund Speck und ¼ Laib Brot. An den Kornschneidetagen trug es den Dienstleuten morgens Suppe und Brei, mittags Erbsensuppe mit saurem Kohl und Speck, saure Milch, einen halben Laib Brot, 1 Käs und Kovent. Wie diese gemessenen, so waren auch die ungemessenen Dienste für die Gerichtsherren oder ihre Pächter mit gewissen Unkosten verbunden. Wenn die Fahrbauern Baumaterialien, Dörner und dergl. fuhren, erhielten sie ¼ Laib Brot. Wenn die übrigen Leute einen Handdienst wie Bauarbeit, Dörnerhauen, Heckenbinden verrichteten, trug es ihnen einen halben Laib Brot. Wer einen nahen Botengang, etwa nach Willingshausen, tat, bekam eine Ecke Brot. Wer einen weiten Botengang, etwa nach Fulda, verrichtete, erhielt für jede Meile Wegs einen Albus Meilgeld. Nur durfte er es dann nicht machen wie jener Mann, der auf dem Rückwege von Fulda die dort geholten Wachslichter alle zerbrach. Sein Urteil lautete nämlich: Bekommt kein Meilgeld!
Aber auch abgesehen von diesen Unkosten bereiteten die Dienste den Gerichtsherren und ihren Pächtern keine reine Freude, sondern auch vielen Verdruss. Die Dienstpflichtigen verrichteten die Dienste meist widerwillig. Sie pflegten zu sagen: „Im Winter sind die Hoftage gut tun.“ Da gab es nämlich keine. Man denke sich doch auch einmal in die Seele eines Bauern hinein, der in der Zeit der Ausstellung oder Ernte, wo er selbst alle Hände voll zu tun hat, eine Arbeitskraft auf einen oder mehrere Tage an den herrschaftlichen oder adligen Hofe abgeben muss! Kein Wunder, dass die Dienste so oft Anlass zu Streitigkeiten gaben. Schon vor Otto Helwig Schleiers Dienststreite hatte Johann Schwertzell einen jahrelangen bitteren Kampf mit den Berfer Fahrbauern, die sich weigerten, Fuhren für ihn nach Willingshausen zu machen. 1652 schwebte ein Prozess zwischen Georg von Schwertzell und den Fahrbauern von Ottrau und Berfa, die sich der Baudienstfuhren für das Willingshäuser Schloss weigerten. Dass bei der Abneigung gegen die Dienste die Arbeiten oft schlecht ausgeführt wurden, lässt sich verstehn. Daher waren schließlich nicht nur die Dienstpflichtigen, sondern auch die Empfänger der Dienste froh, als diese durch Ablösung aus der Welt geschafft wurden.
Neben diesen gemessenen und ungemessenen Diensten, die vorwiegend in landwirtschaftlichen Arbeiten bestanden, sind endlich als eine besondere Gruppe noch die Wald- und Jagddienste zu nennen. Auch diese Dienste hatten die Einwohner von Ottrau (Berfa und Sachsenhausen) halb der Landesherrschaft und halb der Familie von Schwertzell zu leisten. Die Fahrbauern waren verpflichtet, alljährlich eine Fuhre zu machen, um Nadelholzsamen zu holen. Allen Einwohnern lag es ob, zwei Tage jährlich Waldkulturarbeiten auszuführen. Bei der sogen. großen Herbstjagd im Herbst oder Winter mussten die Gemeindeglieder je 3 Tage und die Beisitzer je einen Tag das Wild treiben helfen, ebenso im Sommer oder Winter bei der Jagd nach Hochwild. Die Gemeindeglieder kamen ferner jedes alle paar Jahre einmal an die Reihe, Wildpret oder Fische nach auswärts zu tragen. Alle diese Dienste geschahen ohne Vergütung. Nur erhielten die Leute bei kürzeren Wild- und Fischtransporten eine Ecke Brot und bei weiteren für die Meile Wegs einen Albus Meilgeld.18
Kapitel 4: Die Gerichtsuntertanen.
Bei unserer bisherigen Betrachtung der politischen Verhältnisse Ottraus in der Neuzeit richteten wir unsere Blicke in erster Linie auf die Herren unseres Dorfes und sahen, wer sie waren und welche Pflichten und Rechte sie hatten. Nunmehr wenden wir uns der Bevölkerung zu, die unter jenen Herren lebte, und suchen auch sie in ihrem Bestand und in ihren Pflichten und Rechten kennen zu lernen.
Wer waren die Leute, die in den Jahrhunderten der Neuzeit Ottrau und Ropperhausen bewohnten? Durch Lehnsregister der Familien von Rückershausen, Schleier und Schwertzell und durch die hiesigen Kirchenrechnungen (seit 1578) und Kirchenbücher (seit 1665), sind wir in den Stand gesetzt, fast alle Familien unserer Dörfer seit 1561 mit Namen aufzuzählen.19
In der Zeit von 1561 bis 1600 begegnen uns in Ottrau die Familiennamen Apel, Bambey, Becker, Bicker, Birkenstock, Bomm, Braun, Buchner, Bücking, Dexfuß, Eckstein, Faul, Feller, Fink, Frank, Geisel, Gerhard, Gleen, Hack, Happel, Hattendorf (Hattener), Haun, Jung, Keudel, Kramer, Kuhn, Kurtz, Lauch, Lauterbach, Leihmann, Marx, Mattheis, Nickel, Oley, Oppermannn, Orstatt (Urscheidt), Pfalzgraf, Quehl, Rausch, Ritter, Rod, Scharf, Scheffer, Scheuch, Schmidt (Schmitt), Schneider, Schwalbach, Schwalm, Schrader, Seil, Spenner, Spor, Stock, Vaupel (Vopel), Wagener, Wendelt, Werner, Wettlaufer, Wienolt, Zugriff. In Ropperhausen finden wir während desselben Zeitraums die Familiennamen Daube, Dippel, Eckstein, Ewaldt, Kappes, Kuhn, Kuntzel, Muth, Vogel.
Verweilen wir einige Augenblicke bei den Familiennamen aus der Zeit von 1561 bis 1600! Da drängt sich uns zunächst ein großer Fortschritt im Vergleich zum 14. Jahrhundert auf. Während die Familien- oder Zunamen damals eben erst im Entstehen begriffen waren, sind sie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts allgemein üblich geworden. Die vorhin angeführten Ottrauer und Ropperhäuser erfreuten sich neben ihrem Taufnamen auch alle eines Zunamens. Aber wenn die Zunamen auch allgemein geworden waren, so hatten sie doch noch lange nicht die heutige Bedeutung. In Schriftstücken und Akten spielt heutzutage der Zuname die Hauptrolle, der Vorname tritt bescheiden hinter ihn zurück. In unseren Akten aus dem Ende des 16. Jahrhunderts dagegen ist es vielfach noch umgekehrt. Wiederholt kommt es vor, dass die Zinszahler nur mit ihrem Vornamen angeführt werden als Andreas oder Kaspar. In anderen Fällen haben die Schreiber zwar noch einen Zusatz zum Vornamen für nötig gehalten, aber dieser Zusatz ist nicht der Zuname, sondern irgend eine andere nähere Bestimmung. So wird der Ottrauer Heinz Schmitt, weil er am Pfaffenborn wohnte, fast immer Bornheinz genannt, und Kurt Kappes, der Scheuermüller, heißt einmal Scheurenkurt. Dient hier der Wohnort zur Näherbestimmung des Vornamens, so ist es ein andermal der Beruf. So lesen wir Bastian der Hirt, Hirthans, Zimmerkunz, Henn Bender (d. h. Henn, der Küfer), oder kurzweg „der Bender“. Nach anderen Eigentümlichkeiten sind die Einwohner Ackerhans, Ackerheinz, Drockenhans, Fuderhans und Lumpenkunz genannt. Meist wird jedoch der Vorname durch eine verwandtschaftliche Beziehung ergänzt und näher bestimmt. In Ottrau wohnte um 1580 ein Bauer Hans Pfalzgraf, der zwei Söhne Hans und Reitz hatte. Die Leute werden aber kaum einmal mit ihrem Zunamen bezeichnet, sondern der Vater als Althans und seine beiden Söhne als Althans‘ Hans und Althans‘ Reitz. Während diese beiden nach ihrem Vater benannt werden, so heißen andere Männer nach ihren Müttern oder Ehefrauen. Dies ist der Fall mit Agathenendres (d. h. Andreas, der Sohn oder Mann der Agathe) und Walwerheinz (der Sohn oder Mann der Walpurg). Diese Beispiele, die leicht vermehrt werden könnten, zeigen, dass die Zunamen hier um 1600 ihren Trägern bei weitem noch nicht so fest anhafteten wie heutzutage. Sie waren da, aber noch wenig in Gebrauch. Lieber als die amtlichen Zunamen gebrauchte man allerhand Annamen. Und das nicht nur im alltäglichen mündlichen Verkehr, wo es ja heute noch ortsüblich ist, sondern auch in Schriftstücken, wie Rechnungen und Einnahmeverzeichnissen.
Neben den Zunamen verdienen auch die Vornamen aus der Zeit von 1561 bis 1600 unsere Beachtung. Wie hießen die Männer und Frauen jener Tage? Die Vornamen Christ(ian), Dam (Domian), Daniel, Diedrich, Fritz, Henkel, Helfrich, Helwig, Hermann, Karl, Kaspar, Kun, Mebus, Michael, Stamm, Sebastian, Siman, Wigand finden wir je 1mal; Adam, Albert (Elbert), Georg, Heinrich, Klos, Ludwig je 2mal; Andreas (Enders), Berthold, Jakob, Reitz je 3mal. Je 4mal finden wir die Vornamen Diel und Lorenz (Lotz, Lenz), 5mal Johannes, je 6mal Jost, Kunz und Kurt. 15 Männer heißen Hans, 17 Heinz und 19 Henn. Frauen werden natürlich in unseren Akten nur selten genannt. Wir treffen je eine Agatha, Anna, Barbara, Eila oder Ela, Eimele, Elisabeth, Kinchen (Kunigundchen), Walpurg. Auffallend ist, wie stark der Name Johannes, oder vielmehr seine beiden Abkürzungen Hans und Henn, und demnächst der Name Heinrich, oder vielmehr seine Abkürzung Heinz, alle anderen Taufnamen an Zahl übertreffen. Das ist ein Erbstück aus dem 14. Jahrhundert, wo uns Heinz und Henne auch mit am häufigsten begegneten. Auch das erinnert an jene ältere Zeit, dass sämtliche Männer und Frauen einfache Vornamen und noch keinen einzigen der heute üblichen Doppelnamen tragen. Erwähnung verdient endlich, dass sich die Bewohner unserer Dörfer bei der Namengebung so gut wie gar nicht nach den Namen ihrer adligen Herren gerichtet haben. Kommt doch der in der Familie von Rückershausen so beliebte Name Helwig in unserem Zeitraum nur einmal als Taufname eines Bauern vor.
Doch nun weiter zu den Familien, die in dem halben Jahrhundert von 1601 bis 1650 in unseren Dörfern wohnten! Zum Teil sind es natürlich dieselben, die wir im vorigen Zeitraum hier vorfanden. Andere verschwinden aber und werden durch neue ersetzt. In Ottrau tauchen nach 1601 neu auf die Namen Bast, Blum, Daum, Debus, Deberling, Diedrich, Fischer, Friederich, Fritz, Gerlach, Gleim, Grosch, Höller, Höltscher (Hultschier), Jäger, Klein, Knauff, Koch, Lippert, Lorentz, Mager, Martin, Most, Muth, Noll, Oesterreich, Pfahl, Quantz, Richberg, Riemenschneider, Scheibelhut, Schnücker, Stubenrauch, Stübing, Vogel, Wepler und Zulauf. In Ropperhausen kommen die Zunamen Bierwirth, Eiffer, Haas, Nickel, Pfalzgraf, Rodt und Schmitt auf. Besondere Hervorhebung verdient es, dass die Zunamen in den Akten aus der Zeit nach 1600 auch wirklich regelmäßig gebraucht werden. Das ist ein großer Fortschritt gegen die Zeit vor 1600. Während damals die Zunamen auch in amtlichen Akten noch oft durch allerhand ortsübliche Annamen ersetzt wurden, hört diese gemütliche Lässigkeit nun, von seltnen Ausnahmen abgesehen, auf. Die Schreiber beginnen die Zunamen so wichtig zu nehmen, wie wir es heute tun.
Auch auf dem Gebiete der Vornamen findet in der Zeit von 1601-1650 ein langsamer Fortschritt statt. Die Männer und Frauen heißen zwar im Großen und Ganzen noch ebenso wie im Zeitraum vorher. Die Namen Hans, Heinz, Henn erfreuen sich bei den Männern noch immer besonderer Beliebtheit. Auch Diel und Reitz kommen noch mehrfach vor. Die Frauen heißen zumeist Anna, Barbara, Elisabeth, Katharina, Kunigunde, Margareta, Maria. Aber neben diesem Festhalten am Alten macht sich auch eine Neuerung bemerkbar. Ich meine damit weniger das vereinzelte Aufkommen alttestamentlicher Namen wie Jeremias, Samuel, Tobias, als vielmehr das allmähliche Aufkommen der heute noch üblichen Doppelnamen. Zwar begnügt sich die Mehrzahl der Männer und Frauen bis zum Schluss unseres Zeitabschnitts noch immer mit einem einzigen Taufnamen. Aber seit etwa 1620 geht man zunächst vereinzelt und dann immer häufiger zu der beim Adel und in den Städten schon länger gewohnten Sitte über, den Kindern bei der Taufe zwei Vornamen zu geben. Anstatt sie einfach Hans oder Heinrich, Anna oder Maria zu nennen, gibt man ihnen gleich zwei Namen mit auf den Lebensweg und nennt sie Hans Heinrich, Anna Maria und dgl. mehr.
Einen dritten Zeitabschnitt bilden die Jahre von 1651 bis 1700. In Ottrau kommen nach 1650 neu auf die Namen Angersbach, Bauer, Beyer, Brandt, Decher, Döbling, Eiffer, Einwächter, Falk, Faul, Gerhard, Gerwig, Guldener, Hahn, Henkel, Hennig (Henning), Herget, Hoos, Jupp, Kraus, Krey, Kurtz, Lange, Leimann, Loos, Mertz, Mock, Ploch, Schneider, Schwalm, Stumpf, Vater, Vockenrodt, Weiß, Wiederhold, Wolf, Ziel (Zöll). Neue Namen in Ropperhausen sind Falkenhain, Höller, Jungklos, Kaufmann, Kuhn, Maurer, Prentzel, Quehl, Schober, Seng, Stark, Stumpf, Thiel (Diehl), Weißmöller.
Was die Vornamen betrifft, so sterben Henn, Heinz, Diel, Reitz und das einfache Hans nach 1650 aus. Der weibliche Vorname Eila wird in den Kirchenbüchern zu dem salbungsvollen Eulalia verschlimmbessert. Die Doppelnamen erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Alle möglichen Männernamen verschönert man durch ein vorgesetztes Johann (Hans) und nennt die Kinder Johann Heinrich, Johann Konrad, Johann Georg usw. Die Frauennamen sucht man durch Vorsetzung von Anna klangvoller zu machen: Anna Barbara, Anna Elisabeth, Anna Gela, Anna Katharina, Anna Maria. Doch liebt man auch andre Doppelnamen wie Barbara Elisabeth, Maria Elisabeth, Martha Elisabeth. Im Jahre 1697 erhalten von 15 Täuflingen 10 einen doppelten Vornamen. 1698 von 18 Täuflingen 10, 1699 von 12 Täuflingen 7 und 1700 von 19 Täuflingen 12. Die einfachen Vornamen sind also am Schluss unseres Zeitabschnitts von den zusammengesetzten schon überflügelt.
In der Zeit von 1701-1750 treten in Ottrau neu auf die Familiennamen Augst, Bambes, Bicker (Bickert), Bierwirth, Bletner, Blum, Corell, Deuthorn, Dietz, Dirlam, Engel, Eul, Fuchs, Harle, Hörle, Jäckel, Idte, Kahl, Klebe, Knierim, Knoch, Knot, Kohl, Lauterbach, Lindemann, Ludwig, Mandt, Maus, Mauser, Nentzel, Neufel, Paul, Pfahl, Quehl, Richard, Riebeling, Röhling, Rosmann, Ruhl, Schenk, Schreiber, Simon, Sippel, Spengler, Steller, Völker, Wacker, Wagner, Weber, Ziegler, Zulauf. Neue Namen in Ropperhausen sind Battenhausen, Becker, Knauff, Lange, Lirr, Metzger, Röll, Schwalm, Wittekind.
In der Zeit von 1751-1800 finden wir in Ottrau die neuen Namen Becker, Bernhardt, Boß, Degenhardt, Dörr, Dorn, Eisenach, Enders, Euler, Fenner, Frank, Görgel, Heermann, Imhof, Koch, Lentz, Lerch, Marx, Muhl, Noll, Orth, Peter, Rehe, Rininsland, Schade, Scheffer, Schretzel, Schwabe, Schwalm, Steinbrecher, Thamer, Walther, Weinreich, Weißmüller, Wind, Wölker. In Ropperhausen kommen neu auf Boß, Damm, Hannstein, Wiederhold.
Und nun noch die Zeit von 1801-1850, mit der das Lehnswesen zu Ende ging! Da begegnen uns in Ottrau die neuen Namen Albrecht, Battenberg, Dern, Diebel, Diehl, Gischler, Glänzer, Güngerich, Jüngel, Kaiser, Kalbfleisch, Kappes, Kratz, Lotz, Malkemus, Merle, Musack, Pietsch, Riebeling, Sauer, Schlabach, Specht, Stein, Well. In Ropperhausen treffen wir neu an Auel, Berg, Falk, Hahn, Klagholz, Knoch, Krey, Lange, Schacht. –
Das sind die Leute, die in den Jahrhunderten der Neuzeit Ottrau und Ropperhausen bewohnten. In welchem Verhältnis standen sie nun zu den Gerichtsherren? Im Verhältnis der Untertanen zur Obrigkeit. Die Einwohner unserer Dörfer werden nicht nur vom Landesherrn, sondern auch von den adligen Gerichtsherren als Untertanen bezeichnet. Otto Helwig Schleier und Johann Schwertzell reden öfter von ihren ungehorsamen Untertanen, und noch 1736 ist von einem in Schwertzellscher Spezialbotmäßigkeit wohnenden Gerichtsuntertan die Rede. Der uns heutzutage ganz selbstverständliche Gedanke, dass nur der Landesherr von seinen Untertanen reden kann, war damals noch nicht allgemein durchgedrungen. Allerdings war er schon im Entstehen und wurde von der Landesregierung befördert. Denn mochten auch die adligen Gerichtsherren noch so oft von ihren Untertanen reden, so kennen doch die Vertreter der Landesherrschaft seit dem 16. Jahrhundert nur Untersassen oder Hintersassen des Adels. Besonders lehrreich ist dafür eine Stelle in der Spezialbeschreibung der Dorfschaft Otter von 1750, wo es heißt, Ottrau gehöre in Ansehung der Gerichtsbarkeit der allergnädigsten Landesherrschaft mit 32 „Untertanen“ und denen von Schwertzell mit 33 „Hintersassen“ gemeinschaftlich.20
Welche Pflichten diese Untertanen oder Hintersassen gegen ihre Gerichtsherren hatten, davon ist oben schon ausführlich die Rede gewesen. Sie mussten sich der Gerichtsbarkeit der Gerichtsherren unterwerfen und ihnen die beschriebenen Abgaben und Dienste leisten. Dagegen war, was die Spezialbeschreibungen beider Dörfer ausdrücklich betonen, irgendwelche Art der Leibeigenschaft weder in Ottrau noch in Ropperhausen bekannt.
Außerdem waren mit jenen Pflichten auch wertvolle Rechte verbunden. Die Bewohner unserer Dörfer durften von den Gerichtsherren die Pflege von Recht und Gerechtigkeit erwarten, durften sich von ihnen also eines hohen Gutes versehn. Und dabei durften sie in Person der Schöffen selbst mitwirken. Endlich hatten sie bedeutende Nutzungsrechte an den gerichtsherrlichen Waldungen. So hatte die Gemeinde Ottrau die Hute- und Weidegerechtigkeit in die herrschaftliche und v. Schwertellsche Waldung, wofür sie im Jahre nur 2 Taler Waldgebühr entrichten musste. Insbesondere hatte die Gemeinde das Recht, ihr Vieh in den Eichen- und Buchenwald zur Mast zu treiben. Vom Stück waren dann nur 2 gute Groschen Brenngeld und wöchentlich 2 Albus Mastgeld zu bezahlen. Ferner hatten sie ihr nötiges Bau- und Brennholz aus den Waldungen zu beanspruchen. Für den Schuh Bauholz gaben sie 2 Albus nebst 2 Kopfstück Gebühr für das Loh, Schreiben und Anweisung. Die Klafter Brennholz, es sei Buchen-, Eichen- oder Aspenholz, bekamen sie für 16 Albus 6 Heller. Vom Wagen Heide bezahlten sie ½ Gulden und vom Wagen Laub 4 Albus.21
Kapitel 5: Die politischen Gemeinden Ottrau und Kleinropperhausen.
Gerichtsuntertanen zu sein, das war die erste und nächste politische Eigenschaft unserer Vorfahren. Die Pflichten von Gerichtsuntertanen zu erfüllen und deren Rechte zu nutzen, das war die politische Betätigung, die in ihrem Leben den größten Raum einnahm. Aber doch erschöpfte sich ihr politisches Dasein darin nicht. Sie gehörten ja nicht nur dem Gericht Ottrau, sondern auch den politischen Gemeinden Ottrau und Ropperhausen an. Diesen beiden politischen Gemeinden und ihrer Geschichte wenden wir uns jetzt zu.
Während das Gericht Ottrau schon im Mittelalter wiederholt genannt wird, wird die Gemeinde Ottrau erst viel später erwähnt. Im Jahre 1584 zählte sie 45 Hausgesessene, d. h. etwa 270 Einwohner. Ropperhausen, das damals noch als Hof bezeichnet wurde, zählte 5 Hausgesessene oder etwa 30 Einwohner. 1750 hatte Ottrau 65 Wohnhäuser. Darin wohnten 313 Einwohner, nämlich 60 Männer, 76 Weiber, 74 Söhne, 78 Töchter, 8 Knechte, 17 Mägde. In Ropperhausen zählte man im Jahre vorher 7 Wohnhäuser mit 44 Einwohnern, nämlich 7 Männern, 7 Weibern, 6 Söhnen, 14 Töchtern, 6 Knechten und 4 Mägden. Im Jahre 1834 hatte Ottrau 83 Wohnhäuser, worin 63 Gemeindemitglieder und 20 Beisitzer, im ganzen 531 Seelen, wohnten.
An der Spitze der hessischen Dorfgemeinden stand schon seit mittelalterlicher Zeit der Grebe. Leider sind uns die Greben unserer Dörfer nur zum Teil bekannt. In Ottrau finden wir als Greben 1652 Dietz Höller, 1666 Kaspar Höller, 1691 Heinrich Wiederhold, 1741 den ehemaligen Quartiermeister von den blauen Dragonern Johannes Dietz, um 1745 Joh. Kaspar Faul, um 1755 Joh. George Knoch, um 1770 Bernhard Quehl, um 1790 Johannes Knoch, 1797-1803 Burkhard Euler, 1803-08 und 1814-27 Friedrich Kurz, 1828-34 Johannes Battenberg. Er war der letzte Ottrauer Grebe.
Von Ropperhäuser Greben sind uns noch weniger mit Namen bekannt. 1725 finden wir hier Hans Henrich Weitzel, 1754 Andreas Lange, 1778-95 Joh. Jakob Höller, 1804 und auch 1823 wieder Konrad Diehl.
In Ottrau standen dem Greben bei der Führung der Gemeindeangelegenheiten zwei Gehilfen zur Seite. Das waren die Vorsteher. Sie bekleideten ihr Amt immer nur ein Jahr lang.
Ein deutlicheres Bild von den Verhältnissen der Gemeinde Ottrau gewinnen wir erst aus den Gemeinde-Rechnungen, die seit 1777, wenn auch nicht vollständig, erhalten sind. Daraus lernen wir z. B. die mancherlei Aufgaben des Greben kennen. Er musste die Gemeindeschreibereien erledigen. Wenn die Gemeinde-Rechnung fertiggestellt war, rief er die Gemeinde durch Glockenschlag zusammen und las ihr die Einnahme- und Ausgabeposten vor. Auch brachte das Amt viele Wege mit sich. Bald sehen wir ihn mit den zwei Förstern in den Wald gehn zwecks Zubindung der Hege, bald finden wir ihn auf dem Felde bei der Zehntbesichtigung, bald auf der Gemeindewiese bei der Verstreichung des Gegräfes. Alljährlich musste er einmal nach Ziegenhain oder Neukirchen, um bei der Ausnahme zugegen zu sein; zweimal, um dem Rügegericht beizuwohnen und viermal, um am Bußtage, wo die Bußen für Waldfrevel verhängt wurden, teilzunehmen. Zu diesen regelmäßigen kamen dann noch viele außergewöhnliche Wege in die Nähe und Ferne. Die Besoldung des Greben war gering. Anfangs erhielt er nur eine kleine Bezahlung für einzelne schriftliche Arbeiten und eine bescheidene Vergütung für seine Wege. Erst seit 1790 bekam er dazu noch einen Taler jährlich für Gemeindeschreibereien. Seit 1818 bezog er ein Jahresgehalt von 12 Talern. Neben diesen spärlichen Bezügen aus der Gemeindekasse genoss er allerdings noch einige andere Dienstvorteile. Nach dem Grebenbuch war er frei von der Kontribution, die auf der Mannschaft steht, ebenso vom Handdienst und dem gehenden Dienst. Er hatte ein Schwein mastfrei, bekam eine Klafter Holz und was solcher kleiner Rechte mehr waren.
Außer dem Greben und den beiden Vorstehern lernen wir aus den Rechnungen auch die niedrigen Gemeindebeamten kennen. Es waren die Hirten, der Tagewächter und der Feldhüter. Ihre Besoldung lief durch den Anhang der Gemeinderechnung. 1802 bezog der Schweinehirt 7 Mött 4 Metzen Korn, der Kuhhirt 5 Mött 4 Metzen Korn, der Tagewächter 2 Mött 8 Metzen und der Feldhüter 1 Mött 2 Metzen.
Von den Männern wenden wir uns zu den Mitteln der Gemeinde. Sie waren nicht groß. Denn wie die vielen leeren Einnahmeseiten der alten Rechnung zeigen, hatte die Gemeinde Ottrau weder den Grundbesitz noch die Gerechtsame, deren sich manche andere hessische Dörfer erfreuten. An Grundbesitz hatte sie nur das Höbbelwäldchen, die Höbbels = Vorrod, den Wickenhof, die Ochsenwiese und ein Stückchen Land am Bilzweg. Daraus war wenig zu lösen. Besser wurde es erst, als die Gemeinde im Jahre 1833 das ehemals Stumpfsche Fahrgut in Größe von 71 Ackern für 1800 Taler ankaufte. Ein kluger Schritt, dessen segensreiche Folgen noch heute zu spüren sind! Ehe Ottrau das jetzige Gemeindegut besaß, war die Jahreseinnahme der Gemeinde sehr gering. So betrug sie 1778 vom Kassenbestand abgesehen nur 8 Taler. Zum Glück waren damals auch die Ausgaben nicht so hoch. Beliefen sie sich doch 1778 auf wenig über 9 Taler. In kostspieligeren Jahren half sich die Gemeinde entweder durch Gemeindeumlagen oder durch Erborgen von Darlehen. Da es noch keine öffentlichen Kassen gab, musste von Privatleuten in Ottrau oder auch in Nachbardörfern geborgt werden. Vor 1807 waren die Schulden der Gemeinde kaum nennenswert. Aber die Franzosenzeit, die Erbauung der Pfarrscheune (1816) und der Ankauf einer neuen Schule (1816) und des Gemeindegutes (1833) ließen sie steigen. Am Schlusse unseres Zeitabschnittes, im Jahre 1834, hatte die Gemeinde 3445 Taler Schulden; davon standen 2525 bei auswärtigen Gläubigern.
Die Verpflichtungen der Gemeinde waren auch in früherer Zeit schon zahlreich. Die öffentlichen Gebäude wie Kirche, Pfarrhaus, Schule und Backöfen verursachten fast jedes Jahr Bau- oder Reparaturkosten. Für dieselben Häuser war die jährliche Brandsteuer aufzubringen. Dazu kamen Ausgaben für das Feuerlöschwesen. 1790 wurde ein Spritzenhaus erbaut. Die Spritze mit der Inschrift: „Zu Haarhausen verfertigten mich Joh. Heinrich Lauer und dessen Sohn vor das Amt Neukirchen im Jahre 1791“ ist noch heute im Gebrauch. Verhältnismäßig wenig Unkosten verursachte die öffentliche Gesundheitspflege. 1802 wurden einmal 3 Taler für den Unterricht der Hebamme ausgegeben. Seit 1817 findet sich eine jährliche Ausgabe für die Blatternimpfung, die um jene Zeit eingeführt wurde. Ziemlich häufig sind in den Gemeinde-Rechnungen die Ausgaben für landwirtschaftliche Zwecke. 1795 wird eine Gemeinde-Rasenschleife erwähnt. Seit 1790 finden wir eine Baumschule und einen Baumwärter. 1805 wurden 5 Taler für verkauftes Obst gelöst. Ausgaben brachte der Gemeinde auch die Viehweide ihrer Mitglieder. Für die Zubindung der Hege hatte sie alljährlich 16 Albus an die zwei Förster, den Greben und die Vorsteher zu entrichten. Für die Auftuung der Hege waren 2 Taler jährliche Waldgebühr halb an die herrschaftliche und halb an die v. Schwertzellsche Renterei zu bezahlen. Andererseits mussten die „Beisitzer“, die mit den „Gemeindegliedern“ weder gleiche Rechte noch gleiche Pflichten hatten, einen Beitrag zur Gemeindekasse bezahlen, wenn sie ihr Vieh mit den Gemeindeherden trieben, nämlich von der Kuh 16 Albus und vom Schwein 8 Albus jährlich.
Kapitel 6: Ottrau als hessisches Dorf.
Eine dritte Seite am politischen Leben unserer Vorfahren lernen wir kennen, wenn wir Ottrau nun noch als hessisches Dorf betrachten. Seit wann war es das? Man kann sagen: seit 1432. In diesem Jahre wurde nämlich der Landgraf von Hessen erblicher Schutzherr der Abtei Hersfeld. Dem Namen nach blieb die Abtei wohl noch ein selbstständiges geistliches Fürstentum; in Wirklichkeit aber war ihr Gebiet, wozu ja auch Ottrau gehörte, seitdem hessisches Land, über welches der Hersfelder Abt nur scheinbar und der Landgraf von Hessen in Wahrheit regierte. Dass die Dinge so lagen, das lehrten uns schon die oben erzählten Vorgänge der Jahre 1576 und 1577. Der Abt hatte, als die männliche Linie der Familie von Rückershausen ausgestorben war, bereits den Heinrich von Baumbach und andere Getreue mit dem Gericht Ottrau belehnt. Als aber Landgraf Wilhelm IV. auf Riedeselsche Vermittlung hin für Dorothea von Rückershausen eintrat, hob der Abt die Belehnung Baumbachs zugunsten Dorotheas wieder auf. Des Landgrafen Wunsch war für den Abt Befehl. Ganz dasselbe lernen wir auch aus den Akten über die Dienstreitigkeiten, welche Johann Schwertzell und Otto Helwig Schleier mit ihren Hintersassen führten. In einem Bittschreiben vom Jahre 1580 rufen die Berfer zwar den Abt Ludwig als ihren „Eigentumsherrn“ um Beistand gegen Johann Schwertzell an. Doch vermuten sie von vornherein, dass sein Eintreten nichts helfen werde, und bitten ihn, für sie an den Landgrafen zu schreiben; ja sie rufen in einem anderen Bittschreiben diesen gleich selbst als ihren „Schutzherrn“ an. Und ebenso machten sie es in ihren Streitigkeiten mit Otto Helwig Schleier. Der Abt selbst hatte keine Macht mehr. Er konnte für die Bewohner des Gerichts Ottrau weiter nichts tun, als dass er sich beim Landgrafen für sie verwandte, und musste es sich gefallen lassen, dass seine Fürsprache von Otto Helwig als „unzeitiges, schimpfliches Vorbringen“ bezeichnet wurde. Was Ottrau seit 1432 tatsächlich war: ein hessisches Dorf, das wurde es 1648 auch staatsrechtlich. Durch den westfälischen Frieden dieses Jahres wurde ja die Abtei Hersfeld der Landgrafschaft Hessen-Cassel einverleibt.
Als Untertanen des Landgrafen hatten die Ottrauer neben den Abgaben an ihre Gerichtsherren und den etwaigen Gemeindeumlagen natürlich auch noch hessische Staatssteuern zu bezahlen. Diese bestanden in der monatlichen Kontribution, in dem vierteljährlich erhobenen Fourage-Geld und in den Petri- und Martinisteuern. Die monatliche Kontribution wurde von Haus und Gütern, vom gemeinen Nutzen und der Brauerei, vom Vieh und von der Hantierung bezahlt. Ihr Ertrag diente zur Unterhaltung des Militärwesens. Die Petri- und Martinisteuern wurden auf Landtagsbeschluss für mancherlei Staatszwecke erhoben. Die Höhe dieser Staatssteuern war in den einzelnen Jahren recht verschieden. Nach der erhaltenen Kontributions-Rechnung zahlte die Dorfschaft Ottrau 1783 an monatlicher Kontribution 155 Taler 23 Albus 7 Heller, an Fourage-Geld 24 Taler 2 Albus 8 Heller, an Petri- und Martinisteuern 42 Taler 14 Albus 1 Heller. Das war erträglich. Das Jahr 1804 brachte aber 308 Taler 6 Albus monatliche Kontribution, 25 Taler 23 Albus 8 Heller Fourage-Geld und 71 Taler 2 Albus 4 Heller Petri- und Martinisteuern. 405 Taler Staatssteuern im Jahre waren neben den vielen anderen Abgaben eine schwere Last, zumal, wenn man bedenkt, dass Ottrau damals längst nicht so wohlhabend war wie heute, und dass das Geld in jener Zeit einen viel höheren Wert hatte als jetzt. Ottraus Zugehörigkeit zu Hessen brachte es ferner mit sich, dass seine Söhne beim hessischen Militär dienten, und dass es nicht selten lange dauernde hessische Einquartierung erlebte. Aus unseren Kirchenbüchern könnte man leicht ein Verzeichnis aller hessischen Regimenter zusammenstellen. Als hessische Gemeinde hatte Ottrau endlich von 1780 an fast ununterbrochen Holz- und Steinfuhren zum Ziegenhainer Festungsbau zu bezahlen. 1799 verursachten diese Fuhren 80 Taler, 1802 34 Taler und 1806 noch einmal 39 Taler Unkosten, die durch Gemeinde-Umlagen gedeckt wurden.
Kapitel 7: Ottraus Anteil an den großen Kriegen.
Nachdem wir Ottrau nun als Gerichtsvorort, als Einzelgemeinde und als Glied Hessen-Cassels betrachtet haben, bleibt dem politischen Beobachter die Frage noch übrig, inwieweit unser Dorf von den Ereignissen der großen Weltpolitik berührt ist. Allzuviel ist davon nicht zu erzählen. Die Weltgeschichte weiß weder von einer Schlacht bei Ottrau noch von einem Frieden, der hier geschlossen wäre. Doch sind die großen Weltgegebenheiten auch in unserem abgelegenen Dorfe verspürt worden und haben mancherlei Spuren in den Ottrauer Urkunden hinterlassen.
Da ist zunächst der 30jährige Krieg; jener schreckensvolle Religionskrieg, der Deutschland von 1618 bis 1648 verwüstete. Im Jahre 1623 drang der bayerische Feldmarschall Tilly, der Oberbefehlshaber der katholischen Partei, in Hessen ein. Dass seine Truppen auch Ottrau heimgesucht haben, beweisen die Kirchenkastenrechnungen aus jener Zeit. Darin lesen wir aus dem Jahre 1623: Ein Ehern henkell dupfen haben die Bayrischen mittgenommen. Eine Kirchenordnung haben die Bayrischen auch mitgenommen. 40 ledderne Eimer sind mehrentheils durch die Bayrischen zerschnitten.22 Wenn die Soldaten Tillys solche Zerstörungswut an toten Dingen ausübten, wie mögen sie dann mit den evangelischen Bewohnern unseres Dorfes umgesprungen sein! Von schwerer Kriegsnot legt auch die v. Schwertzellsche Ottrauer Jahresrechnung von 1623 Zeugnis ab. Unter dem Titel „Ungeld vom Weinschank“ ist vermerkt: „Dies Jahr nichts. Ist wegen des Kriegswesens kein Wein verzapft worden.“ Den Ottrauern verging also in jenem Jahre das sonst übliche Weintrinken. Als rückständig werden gebucht 90 Gulden 3 Albus 9 ½ Heller rückständiger Zinsen im Gericht, so jetziger Zeit nach von den Untertanen wegen der großen Kriegsbeschwerung herauszubringen unmöglich. 62 Gulden 2 Albus bleiben die Untertanen an Mastgeld ihren gnädigen Junkern schuldig nächstbemeldeter Kriegsbeschwerung halber. Recht kriegerisch klingen auch die folgenden Einträge: 6 Mesten Korn, so vor die Fröner (Dienstleute) gebacken worden, hat das Kriegsvolk in der Plünderung mitgenommen. 6 Mesten Gersten haben die bayrischen Reuter mitgenommen, so zu Wasenberg gelegen. 26 Viertel Hafer hat das bayrische Kriegsvolk des Herlebergischen Regiments (dessen Obrister Lieutenant samt mehroteils Soldaten allhier im Gericht gelegen) im Durchzug verfüttert und mitgenommen. 20 Viertel Hafer, so damals liegen geblieben, haben die Wasenberger Reuter des Grafen zu Lauenburg wie dann auch etliche Reuter, so zu Weißenborn gelegen und damals auf den heiligen Pfingsttag eben allhier zusammengestoßen, mit hinweg geführt. In diesen Angaben handelt es sich nur um Schwertzellsche Verluste in Ottrau. Welche Mengen Getreides werden 1623 dann erst im ganzen Gericht Ottrau von den feindlichen Truppen geraubt sein!
Über die nächstfolgenden Kriegsjahre haben wir keine Nachrichten. Erst aus dem Jahre 1629 ist uns wieder ein Ereignis überliefert. Noch immer waren die Bayrischen der Schrecken des Landes. Besonders gefürchtet war ein in Schwarzenborn einquartierter Fähnrich, der auch Ottrau hart bedrohte. In dieser Zeit trug es sich zu, dass vier bayrische Soldaten in Ottrau etliche Stück Vieh raubten und ihre Beute in den Stall des gerade von Hause abwesenden Wirtes Siegfried Lorentz brachten. Die Eigentümer des Viehes verfolgten die Räuber bis ins Wirtshaus. Als der Wirt nach Hause kam, verwies er den Soldaten ihr Tun und erklärte, so etwas in seiner Behausung nicht leiden zu wollen. Darüber kam es zum Wortwechsel und zu Tätlichkeiten, die damit endigten, dass Lorentz einen der vier Soldaten tödlich verletzte. Durch diese Tat der Notwehr stürzte sich der Wirt in tiefes Unglück. Um sein Leben zu retten, musste er schleunigst von Ottrau fliehen; und als er sich dann trotz dreimaliger Vorladung aus Furcht vor den bayrischen Soldaten dem peinlichen Gerichte nicht stellte, wurde er in die Mordacht erklärt. Siegfried Lorentz tat nun, was damals so mancher von Haus und Hof Vertriebene tat: er zog dem Kriege nach und wurde Soldat. Als er sich so fünf Jahre lang in fremden Landen aufgehalten hatte, überkam ihn die Sehnsucht nach der Heimat. Seine Frau, Katharina geb. Lauterbach, mit der er offenbar in Briefwechsel geblieben war, musste ein Gnadengesuch an das Gericht in Ziegenhain richten. Darin schreibt sie unter dem 17. Januar 1634, ihr Mann habe sein liebes Vaterland und ihre ihm zugebrachten Güter nunmehr in das 5. Jahr, Gott seis geklagt! mit dem Rücken ansehn müssen; so noch, welches zu erbarmen stehe, wüste lägen. Weil aber unterdessen ihr Mann sich im Krieg weidlich und wie einem Soldaten gebührt vor dem Feinde fürs Vaterland gebrauchen lassen, so bitte sie das Gericht, ihm freies Geleit zur Heimkehr zu schenken oder von Fürstlicher Regierung zu erwirken, damit sie armes Weib endlich in ihrem Herzen Ruhe finde und ihrer Güter in Frieden genießen möge. Dies Bittgesuch der unglücklichen Frau fand bei Richter und Schöffen in Ziegenhain eine verständnisvolle Aufnahme und wurde von ihnen nebst einem befürwortenden Begleitschreiben nach Cassel an die Regierung gesandt. Diese beiden Schreiben finden sich noch heute im Marburger Staatsarchiv, dagegen keine Nachricht über ihren Erfolg. Jedenfalls ist Siegfried Lorentz begnadigt worden. Doch scheint er am Wirtsberuf keinen Gefallen mehr gehabt zu haben. Er blieb Soldat und starb um 1671 in Cassel als hessischer Leutnant.23
Solche anschaulichen Einzelbilder vom 30jährigen Kriege in Ottrau, wie das eben mitgeteilte, sind uns weiter nicht überliefert. Doch besitzen wir noch einige Nachrichten, die bei aller Kürze einen tiefen Blick in das Kriegselend tun lassen. 1630 heißt es in der Kirchenkasten-Rechnung: Ein schwartz leintuch ist durch die Tyllischen vom altar weggenommen. 1635 schreibt Pfarrer Fink unter dem Ausgabe-Titel „Zur Communion“, es sei Abendmahl gehalten Sonntags nach Johannistag, „als wir wiederumb ex fuga (von der Flucht) nach Hause kommen“. Da hatten also alle Einwohner vor den anrückenden verwilderten Kriegshorden Haus und Hof verlassen und waren geflüchtet; vermutlich in die tiefen Wälder der Umgegend. 1640 wird bemerkt, die Stränge der Kirchenuhr seien von schwedischen Völkern mitgenommen. Mehr als einmal lesen wir, der Kirchenkasten habe von Grundstücken keinen Zins erlangen können, weil sie wüste lägen. So hörten wir ja auch oben schon, dass der ganze herrschaftliche Hof im 30jährigen Kriege wüst lag und vom Förster Bauer erst wieder aufgegriffen wurde. Und dasselbe sehen wir noch aus einer im Marburger Archiv aufbewahrten Eingabe etlicher Berfer vom Jahre 1661, in der sie sagen, sie hätten Wiesen, die während der Kriegszeiten mit Hecken und Sträuchern überwachsen wären, also dass sie deren über 20 Jahre schon wegen solcher Überwachsungen nicht genießen könnten. Den Leuten war eben schließlich die Lust vergangen, ihre Äcker zu besäen und ihre Wiesen in Stand zu halten, weil sie nicht wussten, ob sie ernten würden. Kein Wunder, dass in das verödende Land die vorher längst ausgerotteten Wölfe wieder einzogen. Das Marburger Archiv enthält einen leeren Aktenumschlag mit der Aufschrift „Wolfsjagddienste in Ottrau, 1655“. Wenn auch der Inhalt verloren gegangen ist, so bezeugt doch der Umschlag mit seiner Aufschrift, dass Ottrau damals von Wölfen heimgesucht wurde, zu deren Ausrottung die Dienste der Einwohner erforderlich waren. So dürfen wir bei aller Lückenhaftigkeit der Überlieferung doch als gewiss behaupten, dass auch Ottrau das ganze Elend jenes Krieges erfahren hat und dürfen glauben, dass das Lied „Nun danket alle Gott“, das Martin Rinkart beim Friedensschlusse dichtete, unseren Vorfahren aus dem eignen Herzen gesungen war.
Nach dem 30jährigen Kriege vergingen mehr als 100 Jahre, in denen unser Dorf keinen Krieg zu sehen bekam. Erst der 7jährige Krieg, den Friedrich der Große von Preußen in den Jahren 1756 bis 1763 mit Österreich führte, zog Ottrau wieder in Mitleidenschaft. Unser Hessenland war fest mit Preußen verbündet. Es wurde deshalb auch zum Kriegsschauplatze und hatte nicht wenig von den Franzosen zu leiden, die an Österreichs Seite gegen Preußen kämpften. Doch, welchen Anteil hatte Ottrau an den Unbilden des 7jährigen Krieges? Darüber erfahren wir einiges aus den Gesuchen um Schadenersatz, die der damalige Pächter des hiesigen herrschaftlichen Gutes, Förster Hücker, nach Cassel richtete. Hücker hat in den 5 Jahren von 1758 bis 1762 viele Kriegsfuhren sowie Frucht- und Fouragelieferungen bald für die französische, bald für die alliierte (d. h. mit Preußen verbündete) Armee ausführen müssen. Im Jahre 1759 tat er 6 Kriegsfuhren für die alliierte Armee und 9 Kriegsfuhren (meist Mehlfuhren) für die französische. Ein Wagen von ihm fuhr bis nach preußisch Minden und war 20 Tage unterwegs. 1760 lieferte er 11 Zentner Heu und 5½ Zentner Stroh für die alliierte Armee, 1761 72 Zentner Heu und 2 Schock langes Stroh für die französische. 1762 lieferte er 19 Viertel Hafer, 102 Zentner Heu und ½ Schock langes Stroh, außerdem Brot bald an die alliierten, bald an die französischen Truppen. Aber nicht nur weite Fuhren und große Proviantlieferungen brachte der Krieg mit sich, sondern auch Verheerung der Fluren. 1761 hatte Hücker 57 Taler Schaden an besamten Äckern und an Wiesen durch die alliierten Truppen. Besonders erwähnt er einen Kornacker am Höbbel und den Gründchensacker, über die das Militär gefahren war. Alles in allem hatte Hücker nach seiner Berechnung in den Jahren von 1758 bis 1762 590 Taler mehr ausgeben müssen, als ihm das gepachtete Gut eingebracht hatte.24
Natürlich war er nicht der einzige in Ottrau, der Kriegsschäden erlitt. Gleich ihm werden alle übrigen Bauern von Fuhren, Lieferungen und Feldverwüstung heimgesucht sein. Aber auch noch von anderem Schaden hören wir. Wirt Wettlaufer behauptet, in den Jahren 1761 und 62 sei ihm von den Alliierten und Franzosen für 89 Taler Bier und Branntwein ohne Bezahlung vertrunken. Und der von Schwertzellsche Förster Stamm schreibt am 18. Dezember 1762: „Die Einquartierungen von den Jägern sind wir bald wieder losgeworden. Sie bekamen ordre, nach ihrem Corps zu marschieren, welches ihnen nicht lieb war. Wir freuten uns aber desto mehr. Wenn sie hier hätten gelegen bis in den Monat Mai, wie ihre Meinung war, hätten sie alle Jagd ruiniert und das Dorf viele Kosten und Dienste gehabt. Ich habe den Offizier 8 Tage gehabt, aber keinen Heller von ihm bezahlt bekommen.“ So brachte der 7jährige Krieg unserem Dorfe zwar keine solchen Schrecknisse wie der 30jährige, aber doch auch schwere Lasten und Schädigungen. Wie wir aus einem Briefe des von Schwertzellschen Rentmeisters Claudi ersehen, ist in den Kriegsjahren mehrere Male die Kirmes ausgefallen. Dann muss die Not doch schon groß gewesen sein!
Zum dritten Mal kam Ottrau während der Franzosenzeit und Freiheitskriege in unmittelbare Berührung mit den großen Begebenheiten der Weltgeschichte. Damals war es der Franzosenkaiser Napoleon I., der Deutschland und ganz Europa als eine Gottesgeißel heimsuchte. Im Herbst 1805 führte er Krieg mit Österreich und Russland. Preußen hielt sich neutral. Trotzdem marschierten die Franzosen ohne Scheu durch das damals noch preußische Gebiet von Ansbach und Bayreuth. Um nun diese seine süddeutschen Besitzungen zu schützen, schickte der König von Preußen im Winter von 1805 auf 1806 Truppen dorthin. Ein Teil davon zog durch Ottrau. Das erzählt uns Karl Bernhardi, ein Ottrauer Pfarrerssohn aus jener Zeit. In seiner Lebensbeschreibung berichtet er: „Mein Geburtsort, das stille, rings von Bergen und Wäldern umgebene Dörfchen Ottrau, wo mein Vater Prediger war, lag zwar fern von der Heerstraße und von dem geschäftigen Treiben der Welt. Aber dennoch bildet ein kriegerisches Schauspiel eine meiner frühesten Erinnerungen. Es war dies der Durchmarsch eines Teils jenes preußischen Armeekorps, welches im Winter 1805 bis 1806 das von Napoleon verletzte preußische Gebiet in Franken besetzen sollte. Vier Regimenter und eine zahlreiche Artillerie mussten bei dem ungünstigsten Wetter durch diese unwegsame, mit tiefem Schnee bedeckte Gegend sich Bahn brechen. Da das Pfarrhaus gerade an einer der schwierigsten Stellen lag, so hatten wir die beste Gelegenheit, fast alle Offiziere kennen zu lernen. Sie nahmen der Reihe nach im Pfarrhause Erfrischungen an, bis ihre Abteilungen entweder einen engen Hohlweg oder, wenn sie diesen vermeiden wollte, eine eisglatte Anhöhe, unsere tägliche Schlittenbahn, glücklich passiert hatten. Natürlich fehlte es dabei nicht an mancherlei Unfällen.“25
Im Herbst 1806 brach der Krieg zwischen Napoleon und Preußen aus. Am 14. Oktober wurde das preußische Heer bei Jena und Auerstädt geschlagen. Preußens Unglück war auch Hessens Unglück. Am 1. November musste der Kurfürst vor den anrückenden Franzosen von Cassel fliehen, nachdem er noch den Befehl zur Entwaffnung des hessischen Militärs unterzeichnet hatte. Diese Schicksalsschläge wurden auch in Ottrau verspürt. Hören wir Karl Bernhardi davon erzählen! „Nicht minder tief, so schreibt er weiter, hat sich der schmerzliche Eindruck eingeprägt, den es auf uns alle machte, als der Vater im Oktober 1806 mit einem Zeitungsplatte in der Hand in das Familienzimmer trat und uns den unglücklichen Ausgang der Schlacht bei Jena verkündete. Wir fanden nämlich in der Liste der Gefallenen gar viele der erst vor kurzem uns bekannt gewordenen Offiziere. Gar bald sollten wir aber die Bedeutung dieses folgenschweren Ereignisses noch weit mehr empfinden, als der Kurfürst . . fliehen und das ganze Land dem Feind ohne Schwertschlag überlassen musste. Noch sehe ich den schönen Grenadier in Uniform vor mir stehn, welcher in unser Haus kam und voll Entrüstung erzählte, daß die hessischen Soldaten sich nicht einmal hätten wehren dürfen und sogar ihre Gewehre hätten ausliefern sollen.“
Obwohl Hessen seit dem 1. November 1806 in französischer Hand war, wurden doch die hessischen Beamten zunächst beibehalten. Ende 1806 musste der Grebe Friedrich Kurz nach Neukirchen und dem Kaiser Napoleon den Eid der Treue schwören. Im Jahre 1807 presste Napoleon dem Hessenland 6 Millionen Franken Kriegssteuer ab, welche die Landstände in Form einer erzwungenen Anleihe den Gemeinden auferlegten. Der Gemeinde Ottrau trug es dazu 908 Taler. Diese mussten bei vermögenden Leuten geborgt werden. Außerdem musste die Gemeinde in jenem Jahre noch 660 Taler für Kriegsfuhren und dgl. aufwenden. Davon wurden 400 Taler durch Gemeindeumlagen erhoben und 260 Taler in der Gemeinde erborgt. Bis zur Abtragung dieser Schulden sind an die 30 Jahre vergangen.
Ende 1807 zog Napoleons Bruder Jérôme in Cassel, die Residenzstadt des neugebackenen Königreichs Westfalen, als König ein, und nun wurden die hessischen Einrichtungen abgeschafft und alles nach französischem Muster geordnet. Unsere Gemeinderechnungen aus den Jahren 1808 bis 1813 geben uns ein deutliches Bild davon. Die Gemeinde Ottrau hieß nun „Commune Ottrau“. Sie gehörte zum Kanton Oberaula, dieser lag im Distrikt Hersfeld, und dieser war wieder ein Teil des Departements der Werra. An der Spitze der Commune Ottrau stand kein Grebe mehr, sondern ganz wie in Frankreich ein Maire (Mär). Der erste Ottrauer Maire war der oben erwähnte Erbpächter des herrschaftlichen Hofes Hauptmann Franz Scheffer, der von Jérôme geadelt wurde. Sein Gehilfe, der Schmied Lerch, trug den Titel Maire-Adjoint. Als von Scheffer Dezember 1811 starb, wurde Lerch Maire. Neben dem Maire und seinem Adjoint stand der Munizipalrat, der der heutigen Gemeindevertretung entspricht. Die Gemeindekasse hieß Munizipalkasse.
Manche Neuerung, die die Femdherrschaft mit sich brachte, war gut. Nach der Verfassung des Königreichs Westfalen waren alle Staatsbürger vor dem Gesetze gleich. Die Rechtspflege war ausschließlich Sache des Staates und wurde nur noch im Namen des Landesherrn geübt. Die alten Patrimonialgerichte, die im Namen adliger Herren Recht sprachen, wurden abgeschafft. So nahm damals auch unser Gericht Ottrau, nachdem es seit grauer Vorzeit bestanden hatte, für immer ein Ende. Wie zum Sinnbild seiner Aufhebung wurden im Jahre 1809 seine Strafmittel, der Schandpfahl und das Trillerhaus, als altes Gerümpel verkauft. Weil die Fremdherrschaft diesen und jenen Fortschritt zum Besseren brachte, so söhnten sich viele damit aus. Jedenfalls trugen auch die Ottrauer nicht so schwer an der Not der Franzosenzeit, dass sie darum die geliebte Kirmes hätten ausfallen lassen. Nach den Gemeinderechnungen von 1809 und 1811 ist auch damals Kirmes und Fastnacht mit Musik gefeiert.
Aber trotz mancher annehmbaren Neuerung war die Franzosenzeit eine schwere Zeit. Das Hessenland wurde bis auf das Mark ausgesogen. 1807 musste Ottrau für Kriegsfuhren 660 Taler aufbringen, 1808 waren es 128 Taler, 1809 99 Taler, 1810 65 Taler, 1811 52 Taler, 1813 66 Taler. Die junge Mannschaft diente als Kanonenfutter in Napoleons Kriegen. Jede Äußerung hessisch-deutscher Gesinnung wurde von der Polizei verfolgt. Alle Gutgesinnten atmeten daher auf, als Napoleon im winterlichen Russland von Gottes Strafgericht betroffen wurde und erst recht, als die Leipziger Schlacht mit der Macht Napoleons auch dem Königreich Westfalen den Todesstoß versetzte.
Nun kamen die Preußen und Russen durch unsere Gegend und unser Dorf. Sie kamen zwar als Befreier, erlaubten sich aber doch die eine und die andere Gewalttat. Namentlich von den Russen wird manches wilde Stückchen bis heute erzählt. Sie wollten den Branntwein nur aus großen Gläsern trinken, und einer soll selbst Scheidewasser (Salpetersäure) für Schnaps getrunken haben, ohne Schaden zu nehmen. Kein Wunder, dass diese wüsten Gesellen recht gewalttätig mit den Leuten umgingen. So wollten sie dem Wirt Frank eines Tages ans Leben. Sie meinten, er habe sich auf seinem Boden hinter die Flachsbunde versteckt und stachen deshalb mit ihren Säbeln hinein. Er war aber zum Glück in ein Nachbarhaus geflüchtet. In einem anderen Hause waren nur Frauen. Die verwitwete Hausfrau musste sich eine Zeit lang als Mann kleiden, um sich Respekt vor den Russen zu verschaffen. Einige Russen waren mit ihren Quartieren unzufrieden. Darüber kam es zu einer Schlägerei zwischen ihnen und Ottrauern. Sie gingen mit Jochstangen aufeinander los. Dabei wurde dem Hermann Schmitt ein Auge ausgeschlagen; aber auch die Russen bekamen ihr Teil und wollten nun aus Rache von der Hehlwiese aus Ottrau mit Kanonen in Brand schießen. Aber ehe das geschah, ritt Pfarrer Sprank im Galopp nach Eudorf zum russischen Stabe. Auf seine Bitte hin mussten die drohenden Kanonen wieder abgefahren werden; zumal sich herausstellte, dass die Schuld an jener Schlägerei bei den Russen lag.
Diese Russenstreiche sind bis heute von Mund zu Mund überliefert. Aber auch die Gemeinderechnungen zeigen, dass die russischen und preußischen Befreier 1813 als rauhe Krieger in Ottrau auftraten. Nach der Rechnung von 1813 wurde dem Joh. Knoch 1 Karoline, d. h. 6 Taler 8 Albus, zurückerstattet, die er im November jenes Jahres bei einem russischen Durchmarsch für die Gemeinde bezahlt hatte. 1815 wurden Joh. Heinrich Falk 9 Laubtaler zurückerstattet „wegen der von Königl. Preußischen Husaren im Winter 1813 erpreßten Hafer“. Die durchziehenden Befreier erpressten bald Geld, bald Futter für die Pferde. Ja, Anfang 1814 nahmen Preußen und Russen dem v. Schwertzellschen Pächter Falk sogar 3 Pferde mit, die ihm die Gemeinde vergüten musste. Das Jahr 1814 kostete die Gemeinde überhaupt noch einmal viel Geld. Zur Bezahlung mitgenommener Pferde musste sie 250 Taler borgen, zum Ankauf einer Lieferung von 18 Mött Hafer 100 Taler, zu Kriegsfuhrlohn 45 Taler. Außerdem erhob sie für Kriegsfuhren eine Kontribution von 296 Talern. Das waren zusammen 691 Taler, die 1814 für Kriegszwecke gefordert wurden. Aber dies Geld gab man gern, diente es doch zur Befreiung des Vaterlandes von schmachvoller Fremdherrschaft.
Während die Hessen im Jahre 1813 sich noch nicht hatten an den Freiheitskämpfen beteiligen können, zogen sie 1814 mit nach Frankreich, um Napoleons Herrschaft den Garaus machen zu helfen. Und als der Gestürzte sich 1815 noch einmal für kurze Zeit erhob, halfen sie ihn abermals und für immer niederzukämpfen. Aus Ottrau nahmen 19 Mann an den Freiheitskriegen von 1814 und 1815 teil. Es waren Johannes Bernhard, Heinrich Bierwirth, Konrad Eisenach, Kurt Falk, Heinrich Fink, Johannes Herget, Heinrich Krey, Jost Lang, Philipp Lang, Johannes Lerch, Heinrich Lauterbach, Leib Plaut, Johannes Schad, Heinrich Völker, Heinrich Vater, George Vater, Adam Wind, Andreas Wind, Kaspar Wölker. Ihnen zu Ehren wurde schon im Frühling 1814 eine Kriegertafel in der Kirche aufgehängt. Sie hängt noch heute da und ist der Gemeinde eine heilsame Erinnerung an jene schwere und große Zeit.
Kapitel 8: Die wirtschaftlichen Verhältnisse.
Bei der nun abgeschlossenen Betrachtung der politischen Zustände und Ereignisse haben wir mehrfach auch schon das wirtschaftliche Leben Ottraus in der Neuzeit berührt. Dies Gebiet ist jedoch so wichtig, dass es eine besondere zusammenhängende Darstellung erfordert.
Was trieben und wovon nährten sich die Ottrauer und Ropperhäuser in der Neuzeit? Wir wissen es: die meisten lebten von der Landwirtschaft und trieben Ackerbau und Viehzucht. Natürlich waren die Betriebe verschieden groß. Am größten waren die Hufen- oder Fahrgüter. Im Mittelalter gab es ihrer vier, von denen jedes ungefähr 140 Acker Land hatte. Bei Beginn der Neuzeit wurden sie jedoch alle geteilt, so dass es seitdem 8 halbe Fahrgüter, jedes etwa 70 Morgen groß, in Ottrau gab. Vielleicht geschah dies um 1550, als auch das eine große Hofgut in zwei Teile zerlegt wurde.26 Nach den Fahrgütern kamen die Kodengüter. Ihrer waren es anfangs 8, doch wurden, vielleicht auch um 1550, vier davon geteilt, so dass man seitdem 4 ganze und 8 halbe Kodengüter zählte. Ein ganzes Kodengut war etwa so groß wie ein halbes Fahrgut. Während die Ländereien der Fahrgüter im ältesten Teil der Gemarkung, den Gewannen, lagen, lagen die Kodengüter zumeist außerhalb der Gewanne, in den später gerodeten Teilen der Flur. Noch kleiner als die Kodengüter waren die Güter und Gütchen der sogenannten Einzelnen, die sämtlich aus jüngerem Rottland bestanden.
Die Ottrauer Landwirtschaft stand ehedem in dem Rufe, dass sie nicht viel Gewinn bringe. Während von den Ropperhäusern in der Spezialbeschreibung 1749 gerühmt wird, sie seien „in ziemlichen Umständen“, heißt es in der Spezialbeschreibung 1750 von den Ottrauern, sie seien, abgesehen von den Fahrbauern, eben nicht in allzu guten Umständen. Denn ob sie es gleich am Fleiße nicht fehlen ließen, so zöge doch die Hälfte der Einwohner ihr Brot nicht. Es rühre solches einmal daher, dass das Klima gegen andere Orte wegen der hohen Lage etwas kalt sei; sodann daher, dass das Gefütter fürs Vieh und der Dünger für die viele schlechte Länderei nicht reiche. Viehfutter müssten sie für 100 Taler jährlich von anderen Orten kaufen, und um Dünger zu bekommen, müssten sie aus Mangel an Stroh Heide und Laub streuen. Endlich hätten sie keine Huten für das Vieh und könnten also bei ihren schlechten Wiesen wenig anziehn.
Als das beste Feld galt damals das Kalkfeld. Da wurde die meiste und beste Gerste und Weizen gebaut. Das lehmige Steinbrücker Feld galt als das beste Kornfeld. Sehr nasse Äcker wurden 4mal jährlich gepflügt, die anderen 3mal. Durchgehends lag das Land das 3. Jahr brach. Auf das beste Land säte man 6, auf das schlechte 7 Metzen Korn. Zu den allerbesten Jahren erntete man vom besten Lande 76 Garben, in mittleren Jahren 49, in schlechten 34. Gedroschen wurden aus einem Fuder Korn im günstigsten Falle 2 Viertel 10 Metzen. Von den Wiesen heißt es, sie seien meist 2schürig, die besten hätten Klee und süßes Futter, die übrigen seien sauer und schilfig. Von diesen werde das Gras zu Sütte gemacht und für das Rindvieh gekocht. Die Waldwiesen seien die allerschlechtesten, weil sie moosig seien. Es verdient besonders hervorgehoben zu werden, dass weder die Spezialbeschreibung von 1750 noch die v. Schwertzellschen Zehntverzeichnisse aus jener Zeit den Anbau der Kartoffel erwähnen. Diese uns heute ganz unentbehrlich dünkende Frucht wird zum ersten Mal in der Zehntspezifikation von 1790 genannt. Sie wird also auch nicht lange vorher erst in Ottrau eingeführt sein.
Von der Ottrauer Viehzucht sagt die Spezialbeschreibung von 1750, sie sei nicht beträchtlich, weil die Hute in den verheideten Wäldern schlecht sei und sonst wenig Futter gezogen werde. Abgesehen vom Vieh der beiden Höfe und des Pfarrers hatte man in Ottrau damals 14 Pferde, 74 Ochsen, 102 Kühe und 653 Schafe in 6 Pferchen. Die Ropperhäuser hatten 1749 8 Pferde, 14 Ochsen, 23 Kühe und 222 Schafe. Bemerkenswert ist hier einmal, dass in jener Zeit und auch noch 100 Jahre länger nicht die jetzige Stallfütterung, sondern der für das Vieh weit gesündere Weidebetrieb allgemein üblich war. Sodann fällt auf die geringe Zahl der Pferde und die hohe Zahl der Schafe; ein Verhältnis, das übrigens längst vor und noch lange nach 1750 bestand.
Wenngleich nun aber Ackerbau und Viehzucht die Hauptberufe in unseren Dörfern waren, so fehlte doch auch das Handwerk nicht. Gewisse Handwerker, wie den Schmied, den Wagner, den Bender oder Küfer, den Zimmermann und dergl., kann der Bauer gar nicht entbehren, und sie treten in unseren Akten seit 1561 zahlreich auf. Im Jahre 1750 gab es an Hantierungstreibenden in Ottrau 2 Maurer, 2 Schreiner, 5 Wagner, 2 Ziegler, 14 Leineweber, 2 Branntweinsbrenner, 8 Tagelöhner, 4 Krämer, 2 Zimmerleute, 2 Schmiede, 4 Schneider, 1 Wirt, 1 Bender und 7 Handelsjuden. Butterhändler werden zuerst 1809 erwähnt. Sie mussten ihre Butter von hier nach Cassel auf den Schiebkarren vor sich herfahren. Zu Ropperhausen im Grenfgrunde blühte von jeher das Müllergewerbe: die Scheuer-, Lenzen-, Burkhards- und Schneidmühle haben ohne Zweifel schon im Mittelalter ihre Räder gedreht. Die Lenzenmühle trägt ihren Namen von Lenz oder Lorenz Schmitt, die Burkhardsmühle von Burkhard Nickel, die beide um 1620 lebten. In einem Schriftstück des Marburger Staatsarchivs vom Jahre 1618 beschweren sich sämtliche Müller zu Ropperhausen beim Landgrafen, dass der Junker Joh. Christoph Diede zu Immichenhain seinen Leuten bei Strafe verboten habe, ferner in Ropperhausen mahlen zu lassen, weil er sie auf seine Mühle in Niederberfa (die Berfmühle bei Hattendorf) zwingen wolle. In der Ropperhäuser Spezialbeschreibung von 1749 lesen wir, dass die Scheuer- und Schneidmühle zugleich auch Schlagmühlen waren. Dem Schneidmüller fehlte es sehr an Mahlgästen. Mehr verdiente er am Holzschneiden und Ölschlagen. Von allen 4 Mühlen heißt es dann noch, sie schälten wenig Gerste und machten keine Schweine fett. Niemand sei in sie gebannt, es sei ihnen aber auch nicht erlaubt, außerhalb des Gerichts Ottrau in die herrschaftlichen Dörfer zu fahren, sondern wenn diese Untertanen anderwärts nicht mahlen könnten, brächten sie dann und wann die Früchte in die Ropperhäuser Mühlen.–
Ein paar Preisangaben mögen den Schluss machen. 1620 kostete hier ¼ Korn 3 Gulden, ¼ Hafer 2 Gulden, ¼ Weizen 4 Gulden, ¼ Gerste 2 Gulden 8 Albus. 1 Kalb wurde bezahlt mit 2 Gulden 20 Albus, 1 Haushammel oder 1 Hauslamm mit 1 Gulden 22 Albus, 1 Stier mit 27 Gulden 3 Albus. 1621 kostete 1 Rind 31 Gulden 22 Albus. 1622 kostete 1 Schwein 6 Gulden 24 Albus.
1754 verkaufte man das Mött Korn und Erbsen für je 4 Taler, das Mött Weizen für 5 Taler, das Mött Hafer für 2 Gulden, das Mött Gerste für 4 Gulden, 11 Fuder 14 Garben strackes Stroh nebst 2 Fuder 1 Garbe krummem Stroh wurden für 28 Taler 22 Albus 6 Heller verkauft.
Nach der polizeilich festgestellten Taxe des Gesindelohns, über die die Herrschaften bei Strafe nicht hinausgehn sollten, erhielt im Jahre 1766 ein Oberknecht 16 bis 18 Taler, ein ordinärer Knecht 10 bis 12 Taler, ein Mittelknecht 7 bis 8 Taler, ein Kleinknecht 5 bis 6 Taler, ein Kindermädchen 2 bis 3 Taler, und, wenn es nähen und stricken konnte, 4 bis 5 Taler. In diesen Beträgen waren aber die sogenannten Naturalien schon mit eingerechnet. Die Metze Lein wurde mit 10 Albus 8 Hellern berechnet, 1 Pfund Wolle mit 5 Albus 4 Hellern berechnet, 1 Elle Schmaltuch mit 4 Albus, 1 Elle Breittuch mit 2 Albus 8 Hellern, 1 paar Sohlen mit 5 Albus 4 Hellern und 100 Schuhnägel mit 2 Albus.
1 WW: Die Herren von Langenstein genannt Guntzenrod sind die letzte adlige Familie, die wir von Hersfeld neben der Familie von Rückershausen mit einem Ottrauer Gute belehnt finden. 1580 wird Melchior von Langenstein gen. Guntzenrod als Lehnsträger erwähnt. Dann hören wir nichts mehr von der Familie. Das Guntzenroths-Gut besitzen jetzt „Joste“ und „Simmes“ je zur Hälfte
2 WW: Die erwähnten Lehnsbriefe sind sämtlich im Marburger Staatsarchiv. Siehe auch Demme, a. O. S. 75 f
3 WW: Die Akten über die Dienststreitigkeiten sind im Marb. St.-A.
4 WW: Berfa wurde damals zuweilen Oberberfa genannt zum Unterschied vom Berfhof und der Berfmühle bei Hattendorf, welche Niederberfa hießen
5 WW: Die Akten über die Schleierschen Schulden und Verkäufe sind im Marb. St.-A. bis auf die Spezial-Designation des Verkaufs vom 01.01.1600, die sich im Willingshäuser Archiv (Fasz. „von Schwertzellsche Familienakten“) befindet
6 WW: Z. T. nach Akten des Willingsh. Archivs (Fasz. „Schwertzellsche Gerichtsordnung u. Vereidigungsformulare“, „Dienststreitig-keiten im Gericht Ottrau 1580“)
7 WW: Nach Akten des Marburger St.-A
8 WW: Nach Akten des Marb. St.-A. u. a. „Acta das Vorwerk zu Ottrau betr.“ und „Acta die vererbleihten Vorwerksgüter zu Ottrau betr.“
9 WW: Willingsh. Archiv, Fasz. „Spezial-Designation der von Schwertzellschen Lehen“ von 1695, 1723 u. 1822
10 WW: Wie vor und „Acta die Erteilung von Konzessionen zum Theerbrennen betr.“
11 WW: Nach den Akten über die Verpachtung der Ottrauer Gesamtwirtschaft, deren sich sowohl im Marb. wie im Will. Archiv eine große Menge befindet
12 WW: Will. Archiv: „Acta die Erteilg. v. Konzessionen im allg. betr.“ und „Verpachtg. des Kirmeßspiels in den Gesamtgerichten Ottrau und Röllshausen.“
13 WW: Teidigen heißt verhandeln, durch Verhandlungen zum Abschluss bringen
14 WW: Will. Archiv: „Ablösungsverträge von Ottrau.“
15 HM: Ein Mött sind 16 Metzen
16 WW: Will. Archiv: „Ablösungsverträge von Ottrau.“ und „Akten betr. Verpachtg. des Ottr. Rottzehnten 1706-1806.“
17 WW: Will. Archiv: „Spezial-Designation der von Schwertz. Lehen“ und „Nachrichten über Ablieferung der Rindszungen.“
18 WW: Will. A.: „Akten betr. Dienstleistgn. in Ottrau“, „Akten betr. die aufgehobenen Wald- u. Jagddienste zu Ottrau.“
19 WW: Will. A.: „Register der jähhrl. Zinsen Hellwigs v. Rückersh. 1561“, „Verzeichnis der Gütter usw. im Gericht Ottra ofgeschrieben anno 1579.“ Marb. St.-A.: „Der Junker Schleier Salbuch über Schiffelbach 1580.“
20 WW: Die Spezialbeschreibg. findet sich als Einleitg. im „Lager-, Stück- und Steuerbuch der Dorfschaft Otterau“ von 1750 im Marb. St.-A.
21 WW: siehe die Spezialbeschreibg
22 WW: Gemeint sind die Feuerlöscheimer, die auf dem Kirchenboden an ledernen Krapfen hingen
23 WW: Das letzte nach brieflicher Mitteilung des Herrn Archivars Dr. Knetsch in Marburg
24 WW: Marb. St.-A.: „Acta des Förster Hückers zu Ottrau … erlittenen Kriegsschaden u. dessen Vergütg. betr.“
25 WW: Strieder-Gerland, Grundlage zu einer hess. Gelehrten- usw. Geschichte, Bd. 20, S. 7 ff
26 WW: Auch in Ropperhausen wurden damals zwei Güter geteilt: das Haas-Heimbächersche und das Auel-Höllersche