Die Neuzeit

4. Abschnitt
Die Ottrauer Juden

Eine Eigentümlichkeit unseres Dorfes ist die, dass es seit langen Zeiten auch von Juden bewohnt wird. Wann sich die ersten Juden hier niedergelassen haben, ist unbekannt. Die erste Erwähnung geschieht 1662. Da wurde der Jude Nathan mit 10 Albus gestraft, weil er auf einen Bettag unter der Predigt hatte Frucht abtragen lassen. 1696 saßen 5 Familien hier unter von Schwertzellscher Botmäßigkeit. 1750 wohnten 7 jüdische Familien hier. Sie beschäftigten sich von jeher mit Vieh- und Getreidehandel und mit Darlehnsgeschäften.

Die Juden waren ehedem den christlichen Untertanen nicht gleichberechtigt, sondern nur geduldet. Jeder Jude, der sich in Hessen aufhalten wollte, musste einen landgräflichen Schutzbrief lösen. Wollte einer sich im Gericht Ottrau niederlassen, so bedurfte er dazu außer jenem Schutzbrief auch noch einen Aufnahmebrief von seiten der Gerichtsherren, sei es Landesherrschaft oder von Schwertzell. Dieser Aufnahmebrief wurde aber erst dann ausgestellt, wenn Grebe und Vorsteher dem um die Aufnahme nachsuchenden Juden ein günstiges Zeugnis erteilt hatten. So bescheinigten die Ropperhäuser 1725 dem Heß Levi zu Otter, dass sie nichts auf ihn zu sagen hätten und dass sie sich über ihn nicht wegen großer Betrügerei, so viel ihnen wissend sei, zu beschweren hätten. Für den allgemeinen landesherrlichen und den besonderen gerichtsherrlichen Schutz hatten die Juden alljährlich ein Schutzgeld zu bezahlen.

Anders wurde es erst in der westfälischen Zeit. Die Verfassung des 1807 errichteten Königreichs Westfalen stellte die Juden als gleichberechtigte Staatsbürger hin. Und auch als das Königreich Westfalen 1813 wieder zusammenbrach und der Kurfürst wieder in Cassel regierte, blieb es dabei. Durch Verordnung vom 14. Mai 1816 erlangten die Juden gleiche Rechte und Pflichten mit den christlichen Untertanen. Durch eine andere vom 12. Januar 1818 wurde das Juden-Schutzgeld aufgehoben.

Die westfälische Zeit brachte den hiesigen Juden auch neue Zunamen. Zwar hatten sich nur wenige von ihnen bis dahin mit dem bloßen Vornamen begnügt. Vielmehr begegnen uns schon seit 1696 die Zunamen Goldschmidt, Levi, Plaut, Wallach, Michel. Aber diese Zunamen scheinen der westfälischen Regierung nicht genügt zu haben. Leib Michel nannte sich daher Leib Michel Sonn, Salomon Plaut nannte sich Salomon Plaut Mond, und Feist Wallach Feist Wallach Stern. Eine vierte Familie nahm den Namen Schwalmberg, eine fünfte den Namen Martin an. Zum größten Teil sind diese Namen aber nach der westfälischen Zeit wieder verschwunden.

Dass ein Ottrauer Jude Christ wurde, scheint nur einmal vorgekommen zu sein. Das Lingelbacher Kirchenbuch enthält über dies Ereignis einen ausführlichen Bericht des Pfarrers Kempf, der hier mit einigen Kürzungen mitgeteilt sei.

„Den 11. Juli 1773, war der 5. Sonntag nach Trinitatis, ist bei dem Nachmittags-Gottesdienst in der Kirche allhier (zu Lingelbach) getauft worden der aus dem Judentum zum christlichen Glauben und zu unserer reformierten Kirche übergegangene Proselyt Levi Simon, des jüdischen Schulmeisters zu Ottrau Simon David hinterlassener Sohn, 22 Jahre alt, geboren in Schenklengsfeld, wo dessen Vater zuvor gestanden.

Ich predigte bei dieser Gelegenheit über Psalm 59 v. 12, woraus ich die Lehre zog, daß der heutige Ueberrest der ungläubigen Juden der vornehmste Beweis der Wahrheit des Evangeliums sei.

Nach der Predigt legte der Proselyt sein Glaubensbekenntnis öffentlich und freimütig ab und empfing die h. Taufe knieend.

Die Taufpaten waren die beiden Herrn Pfarrer zu Breitenbach Pistor und zu Oberaula Ledderhose, Herr Amtmann Schuppius in Breitenbach, Herr Amtsschultheiß Frey auf dem Herzberg, Herr Oberförster Jericho in Breitenbach und Herr Doktor Fritschler daselbst nebst Herrn Verwalter Pilgrim zu Hohnstadt, welche sämtlich zugegen, nur 2 ausgenommen, und ihm dem Täufling die Namen Christian Constantin beilegen ließen.

Es hatte sich dieser neubekehrte Christ schon einige Zeit her mit mir bekannt gemacht und hatte fleißig das Neue Testament gelesen und sich bemüht, solches mit den Propheten nach meiner Anweisung zu vergleichen. Daher er dann endlich in der Osterwoche, welches Fest er zuletzt noch in der Judenschule zu Ottrau gefeiert hatte, sich bei mir einfand und mich um Beihilfe bat, daß er ein Christ werden könnte. Von damals an gab ich ihm täglich Unterricht in den Heilswahrheiten und lehrte ihn überzeugend, daß unser Glaube der rechte Glaube seiner frommen uralten Voreltern sei.

Die Versammlung war bei diesem Aktus (d. h. der Taufe), der noch nie hierselbst mag vorgegangen sein, seit die Reformation eingeführt ist, so außerordentlich zahlreich, daß ich die Fenster der Kirche ausheben ließ, damit die auf dem Kirchhof auch an dem Vorgang in der Kirche partizipieren konnten, und wurden von den Ortschaften von 3 bis 4 Stunden Wegs her auf 2000 Zuhörer geschätzt, darunter auch der Herr Pfarrer von Ottrau.

Der Proselyt bekam zum Geschenk durch die Kollekte 10 Gulden und beliefen sich die Geschenke überhaupt auf 70 Gulden und drüber; worunter mitgerechnet ist, daß er wöchentlich einen Gulden Kostgeld bis zu seiner Taufe von Ostern an gerechnet aus dem Gotteskasten zu Röllshausen und Schrecksbach bekam.

Gott, der ihn, wie ich hoffe, durch seinen h. Geist zum christlichen seligmachenden Glauben gebracht hat, lasse diesen Christian Constantin treu bleiben im wahren Glauben bis ans Ende, damit er mein Ruhm an jenem Tage sein möge. Amen!“