Die Neuzeit
3. Abchnitt:
Die Schule
Die Männer der Reformation gaben dem Volke die Bibel in die Hand. Sie wünschten sich also ein Volk, das lesen könne, und wünschten damit auch den Schulunterricht, in dem man lesen lernt. Dieser Wunsch wurde freilich nicht auf der Stelle erfüllt. Die meisten hessischen Dörfer blieben das ganze Reformationsjahrhundert hindurch ohne Schulen.
Der erste Anstoß zur Gründung einer Schule in Ottrau erfolgte im Jahre 1579. Pfarrer Kurtz hatte in der Kastenrechnung von 1578 angeführt, das Opferamt sei ohne sein Wissen (von den Patronen?) mit einem jährlichen Zins von 2 Gulden beschwert. Der Opfermann Hans Rausch habe sich aber diesen Zins verbeten, sonst wolle er kein Opfermann mehr sein. Dazu hat nun der Dekan und spätere Superintendent Valentin Schoner in Ziegenhain die Revisionsbemerkung gemacht: Sollte billig der Opfermann der 2 Gulden erlassen und eine tüchtige Person, so neben dem Opferamt Schul halten könnte, angenommen werden.
Wann nun diese Anregung des Superintendenten befolgt und die Schule in Ottrau gegründet ist, lässt sich nicht bestimmt sagen. Doch scheint es bald geschehen zu sein. 1621 wurde Pfarrer Fenner wegen des Einkommens der Schul- und Kirchendiener nach Neukirchen beschieden, und 1622 befahl der Superintendent, dieweil der Opfermann angesucht, ihm seine geringe Besoldung zu verbessern, so solle ihm der bisher für die Kastenwiese zu Romrod gezahlte Zins bis auf Weiteres erlassen werden. Diese beiden Nachrichten lassen vermuten, dass der Ottrauer Opfermann inzwischen mit dem Schuldienst betraut war und deshalb einer Gehaltserhöhung würdig erachtet wurde.
Der erste Lehrer der Ottrauer Jugend, den wir mit Namen kennen, war Hans Mantel. Wir wissen von ihm aber weiter nichts, als dass er 1658 einen Arm zerbrach und darum 21 Albus Unterstützung aus dem Kirchenkasten erhielt, und dass er im Februar 1669 starb.
Sein Nachfolger war Hans Henrich Döbling. Nach 40jährigem Dienst wurde er 1709 in den Ruhestand versetzt und starb 1713. Neben dem Kirchen- und Schulamt übte er auch das Handwerk eines Dachdeckers und Weißbinders aus.
Als Döbling 1709 von seinem Amte zurücktrat, folgte ihm sein Schwiegersohn Konrad Appel, des Schulmeisters Joh. Jakob Appel zu Leimsfeld Sohn. Ostern 1743 scheint er in den Ruhestand getreten zu sein. 1750 starb er.
Joh. Andreas Most verwaltete die hiesige Schulstelle zunächst als Appels Gehilfe. Im Januar 1743 kam er hierher und sang die Probe, worauf er sich dann mit einem Zeugnis von Pfarrer, Grebe und Vorsteher nach Cassel zum Superintendenten begab. Most wollte auch Appels Tochter heiraten; allerdings nur dann, wenn ihm die Ottrauer Schulstelle fest zugesagt würde. An einem Märztage 1743 sollte die Verlobung vor sich gehen. Der Brautvater hatte auch, wie Förster Stamm schreibt, schon Fleisch und Bier zur Feier angeschafft, aber während man hoffte, der Gehilfe werde sich zu der Feier einfinden, blieb er nicht nur ganz aus, sondern es verlautete auch, er sei unter dem gelben Dragoner-Regiment Quartiermeister geworden. Nach einigen Tagen stellte sich der Vermisste aber doch ein, und es kam nicht nur zu der geplanten Heirat, sondern 1746 auch zu Mosts dauernder Anstellung in Ottrau.
Im Jahre 1764 gab Joh. Andreas Most aus unbekannten Gründen sein Amt auf und kehrte Ottrau den Rücken, worauf sein 20jähriger Sohn Johann Adam Most sein Nachfolger wurde; doch unter der Bedingung, dass er, wenn der Vater wiederkomme und seine Abwesenheit hinlänglich womit entschuldigen könne, um der Familie willen den Dienst wieder an seinen Vater abtreten solle. Der Vater kam jedoch nicht wieder, und den Sohn raffte im März 1768 ein früher Tod dahin.
In den letzten 99 Jahren war das Ottrauer Schulamt in ein und derselben Verwandtschaft geblieben. Joh. Adam Most war ja ein Urenkel Joh. Heinrich Döblings. Jetzt kam es an einen ganz neuen Mann: Nikolaus Lehn. Mit ihm nahm es einen üblen Ausgang. 1784 stellten Pfarrer und Älteste eine Beschwerdeschrift gegen ihn auf. Darin suchen sie aus einzelnen Vorkommnissen darzutun, dass Lehn sich als einen Mann bewiesen habe, der weder Gehorsam an die Gesetze anerkenne, noch weniger Liebe und Achtung gegen sein Amt habe. 1788 begannen die Anklagen von neuem. Diesmal wurde ihm u. a. vorgeworfen, er mache zu viel unnötige Ausgaben, z. .B. für Branntwein, Puder, silberne Schnallen, Sackuhr und dergl. Im Spätjahr 1788 wurde Lehn abgesetzt. Er blieb hier wohnen, bis er 1792 starb.
Nach Lehn versah der Schneidermeister und Kastenmeister Georg Fuchs ¾ Jahr lang die hiesige Stelle als Interimsschulhalter, bis er 1789 an die Schule zu Nausis versetzt wurde. Sein Nachfolger war Anton Gleim. Er stand hier von 1789 bis 1802. Nach einer Mitteilung seines Enkels, des Superintendenten a. D. Gleim, war er aus Asmushausen bei Bebra gebürtig, und wurde von Ottrau nach Wasenberg versetzt, wo er 1826 starb. Wahrscheinlich ist er der erste Ottrauer Lehrer, der auf einem Seminar, nämlich dem 1779 in Cassel eingerichteten, vorgebildet wurde.
Johannes Roeth, der im Herbst 1802 die hiesige Schulstelle antrat, hatte eine gute Vorbildung genossen, hatte er doch das Seminar und das Lyzeum in Cassel besucht. Nach allem, was man über ihn erfährt, war er ein besonders tüchtiger Schulmann. Nebenbei war er Buchbinder und besorgte die Gemeindeschreibereien. In der westfälischen Zeit war er Mitglied und Schriftführer des Ottrauer Munizipalrats. Erwähnenswert ist die herzliche Freundschaft, die Lehrer Roeth und Pfarrer Bernhardi verband und die sich auch auf ihre Kinder übertrug. Karl Bernhardi gedenkt ihrer nicht nur in seiner schon mehrfach erwähnten Lebensbeschreibung, sondern auch in einem Nachrufe, den er 1870 in der „Hessischen Morgenzeitung“ Friedrich Roeth, dem verstorbenen ältesten Sohne Johannes Roeths, widmete. Darin heißt es: „Sein Vater, Schullehrer in Ottrau, wo mein Vater als Prediger stand, war ein gebildeter, tätiger und anspruchsloser Mann, von ehrenwertem Charakter … Gleichwie unsere Väter bis zu ihrem Tode in den freundschaftlichen Beziehungen standen, so waren auch wir Knaben in einem täglichen Verkehr, der niemals auch nur durch eine vorübergehende Mißstimmung getrübt worden ist und der sich nach unserer in meinem 13. Lebensjahre erfolgten Trennung noch 57 Jahre ohne Unterbrechung brieflich fortgesetzt hat.“ 1833 wurde Joh. Roeth nach Loshausen versetzt, wo er 1846 starb.
Sein Nachfolger in Ottrau war sein Sohn Heinrich Röth. Er verwaltete das hiesige Schulamt nicht weniger als 40 Jahre. Die letzten 7 Jahre, von 1866 bis 1873, musste er freilich Gehilfen annehmen, von denen der erste Joh. Karl Blettner und der zweite Heinrich Sippell war. Am 1. April 1873 trat H. Roeth in den Ruhestand, den er aber nicht lange genießen sollte, da er schon am 8. August 1873 starb. Den bei der Leichenfeier zu verlesenden Lebenslauf hatte er sich schon im Jahre vorher selbst geschrieben. Er sagt darin u. a.: „Als 11jähriger Knabe spielte ich während des Gottesdienstes leichte Choräle, und ich kannte keine größere Freude, als die singende Gemeinde in der Kirche mit der Orgel begleiten zu dürfen.“ Zum Schlusse bittet er: „Der barmherzige und gnädige Gott wolle mir in Christo alle meine Sünden vergeben, die ich in diesem Leben getan habe, und mich, nachdem ich des Lebens Last und Hitze mit Geduld getragen habe, aufnehmen in sein ewiges Gnadenreich!“
Nachdem das Ottrauer Schulamt 71 Jahre bei der Familie Roeth gewesen war, kam es nun wieder an einen neuen Mann. Dieser war Johannes Knoch, gebürtig aus Weißenborn. Er stand hier von 1873 bis 1900. Sechs seiner Ottrauer Schüler ergriffen den Lehrerberuf. Von Ottrau wurde er an die Schule zu Neuhof bei Fulda versetzt, wo er noch heute wirkt.
Seit 1900 steht hier der Lehrer Georg Strack, gebürtig aus Bockendorf, ein Neffe und Schüler Knochs. Seit 1907 ist er auch Lehrer und Leiter der ländlichen Fortbildungsschule. Er ist der zehnte oder, wenn man die nicht endgültig angestellten Lehrkräfte mitrechnet, der vierzehnte Lehrer der Ottrauer Jugend seit den Tagen des 30jährigen Krieges. –
Das Ottrauer Schulhaus stand ehedem gegenüber dem Kirchhofstor; da wo jetzt der Giebelgarten des V. H. Merle liegt. Es war eine „enge Behausung“. 1816 verkaufte die Gemeinde es für 412 Taler und kaufte das heutige Schulhaus für 1191 Taler an. Im Jahre 1891 wurde der jetzige Schulsaal gebaut.1
Bekanntlich musste früher jeder Einwohner, der Kinder zur Schule gehen hatte, Schulgeld bezahlen. Lange Zeit betrug das Winterschulgeld für ein Kind 10 Albus 8 Heller, das Sommerschulgeld 3 Albus 6 Heller. Für arme Kinder bezahlte ehedem der Kirchenkasten das Schulgeld; später war es Pflicht der politischen Gemeinde, dem Lehrer das fehlende Schulgeld zu ersetzen. Nach der Kompetenz von 1824 brachten die Kinder der Vermögenden dem Lehrer zu Neujahr kleine Gaben an Erbsen, Linsen, Hafermehl, Flachs und Besen. Überhaupt bestand ein großer Teil des Stelleneinkommens in sogen. Naturalien. Dazu gehörte insbesondere das Läutebrot. Jeder Hausbesitzer musste dem Lehrer für die Besorgung des Läutens alljährlich 3 Laibe Brot liefern. Da diese Brote an Größe und Güte oft viel zu wünschen übrig ließen, so regte der Pfarrer schon 1819 an, dass dem Lehrer statt des Brotes Korn oder Geld gegeben werden möge. Doch müsse die Sache allgemein und „vom allerhöchsten Orte“ befohlen werden. Denn alles sei verloren, wenn man dergleichen in die Willkür der Leute stelle, die leider oft die Schäfer und Schweinhirten höher achteten und besser besoldeten, als einen würdigen Schulmann. Doch blieb diese Anregung ohne Folgen. Erst 1868 kam zwischen dem Lehrer und 73 Hausbesitzern ein Vertrag zustande, worin diese sich verpflichteten, statt der 3 Laibe Läutebrot zu Martini jeden Jahres 1 Metze marktreines Korn an den Lehrer zu entrichten. 1884 wurde das Läutebrot durch eine Geldzahlung für immer abgelöst.
1778 setzten Pfarrer und Grebe in Gemeinschaft mit den Kirchenältesten und Vorstehern fest, dass die Kinder, die bis zum Februar 6 Jahre alt würden, von Michaelis des Jahres an zur Schule gehen sollten. Die Schulpflicht begann also später als heutzutage. Johannes Röth hielt im Winterhalbjahr jeden Mittwoch und Sonnabend 3 Stunden, an den 4 anderen Wochentagen aber je 6 Stunden Schule. Im Sommerhalbjahr war am Mittwoch und Sonnabend frei, während an den 4 anderen Wochentagen je 3 Schulstunden waren. Im Sommer behielten viele Eltern ihre Kinder eigenmächtig zu Hause und gebrauchten sie zur Arbeit. Die Bitten und Ermahnungen, womit es Pfarrer Bernhardi versuchte, halfen nicht. Besser wurde es erst unter seinem Nachfolger Sprank, der die Bestrafung nachlässiger Eltern und Geld und Gefängnis erwirkte. Vor 1800 lernten nur die Knaben schreiben. Erst Pfarrer Bernhardi und Joh. Roeth drangen darauf, dass auch die Mädchen das Schreiben erlernten. 1806 konnte Bernardi in das Schulprotokoll schreiben: „Nun ist es völlig durchgesetzt, dass alle Kinder, sowohl Mädchen als Knaben, schreiben müssen und selbst der Unwille der Eltern gar nichts ändert. Der Schulmeister Roeth hat vielen, die sich entschuldigten, dass die Eltern kein Papier und keine Tinte kaufen wollten, anfänglich beides geschenkt und auf diese Weise auch die letzten Widerspenstigen besiegt.“ Der Handarbeitsunterricht der Mädchen und der Turnunterricht der Knaben wurden noch viel später eingeführt. Im Herbst 1907 wurde eine ländliche Fortbildungsschule gegründet. –
1 HM: Der Schulsaal wurde 1891 an die Lehrerwohnung angebaut. Die Lehrerwohnung wurde 1974 umgebaut und erweitert und beherbergt heute das Ottrauer Rathaus. Bei diesen Umbaumaßnahmen wurde der Schulsaal abgerissen; an dessen Stelle befindet sich jetzt die Filiale der Kreissparkasse