Die Urzeit

Dicht vor dem Pfarrhofe zu Ottrau sprudelt aus eiserner Röhre stark und klar das wohlschmeckende Quellwasser des Pfaffenborns. An ihm holen die Mädchen des ganzen Dorfes den täglichen Haustrunk. An ihm füllen im Hochsommer die Schnitter ihre hölzernen Bornkannen. Manchen Kranken habe ich dies Wasser schon als eine Art Heiltrank rühmen hören. Salzschlirf kann auf seinen Bonifatiusbrunnen und Hersfeld auf seinen Lullusbrunnen nicht stolzer sein, als Ottrau es auf seinen Pfaffenborn ist. Aber so bekannt und berühmt dieser Born auch in Ottrau und seiner Nachbarschaft ist, so wenig weiß man doch, wo sein Ursprung liegt. Die einen sagen, er komme aus der nahen Anhöhe des Pfaffenbuschs, andere aber betrachten den eine Stunde weit entfernten Rimberg als seinen Herkunftsort. Genug, sein Ursprung liegt für uns im dunkeln Schoße der Erde verborgen. Und ähnlich wie mit seinem Pfaffenborn ist es auch mit Ottrau selbst bestellt. So wohlbekannt das heutige Ottrau auch in der ganzen Umgegend ist, so unbekannt ist doch die Zeit seiner Entstehung und Gründung. Darüber lagert sich das Dunkel der Vorzeit, und man kann nur Vermutungen darüber hegen.

Das ist jedoch sicher, dass in der Gegend des heutigen Ottraus schon vor Jahrtausenden Menschen ihr Wesen getrieben haben. Zwei Hügel im nahen Walde bezeugen es. Der eine, im Kammermannsgrund gelegen, hat einen Umfang von etwa 55 Metern und eine Höhe von 2 Metern, der andere, im Scheuersrod befindliche, misst ungefähr 49 Meter im Umfang und 1½ Meter in der Höhe. Es sind Hünengräber, worin Menschen einer fernen Vergangenheit bestattet sind. Das Grab im Kammermannsgrunde hat der ehemalige Ottrauer Lehrer Knoch teilweise geöffnet. Hören wir, wie er selbst seine Entdeckung in einem Briefe beschreibt!

„Infolge einer Lektüre über Hünengräber“, schreibt er, „wurde ich aufmerksam auf manche eigentümliche Bodenerhöhung, die nicht auf natürliche Weise entstanden war. Besonders fiel mir der Hügel im Kammermannsgrund auf. Die Schuljungen – jetzt kräftige Männer – mit Pickel, Hacke, Schippe usw. zogen mit mir aus, und nach mehrstündiger Arbeit legten wir einen zusammengelesenen Steinhaufen frei. Nachdem die Steine vorsichtig auseinander gelesen, kamen wir auf einen Kohlenhaufen. Die Kohlen sahen so frisch aus, als ob sie tags zuvor entstanden seien. Neben den Kohlen lagen mehrere Kupferringe und eine Scheide aus Kupferdraht mit einem ziemlich gut erhaltenen Dolche. Jetzt wirst du, so dachte ich, wohl auf die Urne kommen; allein mein Suchen war vergeblich. Nach einer Besprechung mit dem damaligen Herrn Baron v. Schwertzell bat mich dieser, ihm den Fund zu überlassen. Da er der berechtigte Eigentümer war, tat ich es gern. Baron von Schertzell schickte die Gegenstände an das Landesmuseum in Kassel, wo sie mit Angabe des Fundorts ausliegen.“‘

Nachdem ich diesen Brief erhalten hatte, wandte ich mich an das Museum zu Cassel mit der Bitte um nähere Auskunft. Darauf erhielt ich die Antwort, die Funde von Ottrau stammten aus dem zweiten Abschnitt der Bronzezeit, genauer gesagt aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends vor Christi Geburt. Sie beständen aus Bruchstücken einer Bronzenadel mit radförmigem Kopf und einigen Spiralarmringen. Später hatte ich über den Gegenstand auch noch eine Unterredung mit dem Museumsdirektor Dr. Boehlau. Über den Verbleib des Dolches konnte er mir keine Auskunft geben. Das Grab, sagte er, könne für eine, aber auch für mehrere Personen vornehmen Standes angelegt sein. Die Kohlen seien der Rest von einem Opferfeuer. Die vorgefundenen Armringe ließen vermuten, dass es das Grab einer Frau gewesen sei. Der Dolch spreche nicht dagegen, weil in jener fernen Zeit auch Frauen Waffenschmuck getragen hätten. Die bestattete Person könne dem Volke der Kelten angehört haben. Dies wanderte ja während der zweiten Periode der Bronzezeit, 1700-1500 vor Christi Geburt, in Hessen ein und wurde erst um 400 vor Christus durch den deutschen Volksstamm der Chatten aus unserer Gegend verdrängt.

So lehrt uns das geöffnete Hünengrab unter den Kiefern des Kammermanngrundes, dass bei Ottrau schon 16-1700 Jahre vor ChristiGeburt Menschen hausten. Diese Menschen kannten das Eisen und seine Verwertung noch nicht, sondern verfertigten ihre Geräte und Schmucksachen aus Bronze, einer Mischung von Kupfer und Zinn, weshalb auch die ganze Zeit von 2000 bis 1000 vor Christus die Bronzezeit genannt wird. Wir dürfen uns jene Leute nicht etwa als gänzlich wilde Barbaren vorstellen. Denn wie unsere Funde erkennen lassen, verfertigten und trugen sie sehr zierlich und kunstvoll gearbeitete Schmucksachen und Waffen, sie glaubten an Götter und verehrten sie durch Opfer, sie ehrten ihre Verstorbenen durch ein kostspieliges Begräbnis. Aus anderwärts gemachten Funden und Beobachtungen geht hervor, dass die Menschen der Bronzezeit schon in Häusern und Dörfern wohnten und dass sie bereits Ackerbau und Viehzucht trieben. Wieweit das auch von den Bronzezeit-leuten der Ottrauer Gegend gilt, ob sie schon ein Dorf an der Pfaffenbornquelle und um das Dorf herum Ackerland und Weideplätze hatten, das ist uns freilich unbekannt.

Das Hünengrab

Im dürren Kiefernwalde,
Nur wenigen bekannt,
Wölbt sich ein stiller Hügel,
Das Hünengrab genannt.

Ihn schmücken keine Blumen,
Ihn ehrt kein steinern‘ Mal,
Die Tanne streut ihm Nadeln,
Sonst liegt er öd‘ und kahl.

Und doch! Wenn ich betrete
Den unfruchtbaren Sand,
Dann sagt mir eine Stimme:
Du stehst auf heil‘gem Land.

Hier flossen Abschiedstränen,
Die Liebe trug hier Leid,
Und das hat diesen Boden
Auf immerdar geweiht.

Bald sinds viertausend Jahre,
Daß hier in bitt‘rem Gram
Von dem geliebten Weibe
Ein Kelte Abschied nahm.

Sie war ihm viel gewesen.
Wenn er das Feld bestellt,
Dann hatte sie verwaltet
Des Hauses kleine Welt.

Und wenn er ausgezogen
Zum Jagen oder Krieg,
Dann rief sie zu den Göttern
Um Jagdglück und um Sieg.

Auch hatte sie die Kinder
Erzogen muttergut,
Dem Vater gleich zu werden
An Kraft und hohem Mut.

Da ward sie krank geworden,
Und blaß wie Spätherbsttag,
Und er ward Kräuter suchend
Geirrt im wilden Hag.

Doch konnt‘ kein Kraut ihr helfen,
Nicht Birkenblatt nicht Schleh‘n,
Nicht des Wachholders Spitzen,
Auch nicht des Priesters Flehn.

Was man ihr auch an Mitteln
Und treuer Pflege bot,
Sie musste dennoch folgen
Dem unerwünschten Tod. –

Als nun aus ihr gewichen
Der letzte Lebenshauch,
Da ehrt‘ der Mann die Tote
Nach seiner Zeit Gebrauch.

Der Stamm der schönsten Eiche,
Die rings der Urwald barg,
Ward mit dem Bronzebeile
Gehöhlt zum festen Sarg.

Drein legte man die Tote
Im vollen Festgewand,
Geschmückt mit vielen Nadeln,
Beringt an Hals und Hand.

Damit es ihr nicht fehle
An Schmuck im Totenreich,
Und sie den ersten Frauen
Sei ihres Volkes gleich.

Auch gab man in die Rechte
Ihr eines Dolches Wehr,
Daß sie nicht fürchten müsse
Der bößen Geister Heer.

Dann zog man still und traurig
Dem nahen Walde zu,
Die Tote zu bestatten
Zu ihrer letzten Ruh`.

Ein Holzstoß ward entzündet,
Ein Opfer dargebracht,
Daß ihr die Götter gäben
In Gnaden gute Nacht.

Nun noch ein letztes Grüßen,
Ein langer Abschiedsblick,
Und dann entschwand dem Manne
Sie, seines Lebens Glück.

Ringsher um Sarg und Leiche
Trug Steine man zuhauf,
Und auf den Steinen türmten
Sie hoch die Erde auf.

Dies Türmen hat drei Tage
Und länger wohl gewährt,
Dann erst erschien dem Manne
Sein Weib genug geehrt.

Der Hügel ragt noch heute
Jahrtausenden zum Trutz,
Gönn‘ ihm, dem Werk der Liebe,
Auch alle Zukunft Schutz!


Wie schon gesagt, wurden die Kelten um 400 vor Christus durch die Chatten aus unserer Gegend verdrängt. Nur wenige Kelten blieben als Knechte der Eroberer in ihrer bisherigen Heimat. Von diesen Zurückgebliebenen übernahmen die Chatten manche keltische Namen für Berge, Bäche und Flüsse. Keltischen Ursprungs ist der Name des nahen Rimbergs. Der Volksmund spricht ihn bis heute Rinnberg aus, was unverkennbar an das keltische Wort rinn, d. h. Berg, anklingt. Für keltisch hält man weiter die Namen der nahen Hebach und Eßbach. Vielleicht ist auch der alte Name der Grenf, Grintiffa, von den Kelten her übernommen. Grind heißt im Keltischen soviel wie Berg und affa das Wasser. Bergwasser wäre kein übler Name für diesen vom mächtigen Rimberge herkommenden Bach. Ob die Chatten außer diesen Namen noch mehr von den Kelten übernahmen? Etwa eine Dorfanlage an der Stelle des heutigen Ottraus, dies Dorf als religiös-politischen Mittelpunkt der Umgegend und den Bechtelsberg als einen heiligen Berg? Das sind lauter Möglichkeiten, die sich weder beweisen noch bestreiten lassen.

Wenn die Chatten an der Stelle des jetzigen Ottraus keine Dorfanlage vorgefunden haben, dann haben sie hier jedenfalls sehr früh eine gegründet. Ottrau ist eins der ältesten Dörfer Hessens. Das beweist einmal die älteste Urkunde, die es über unser Dorf gibt, sein Name. Der Name Ottrau, der bis tief in das 17. Jahrhundert hinein Ottra geschrieben wurde, lautete ursprünglich Ottraha und bedeutet Otterwasser, d. h. einen Bach, worin sich zahlreiche Fischottern tummeln. Unser Dorf ist also nicht etwa zu Ehren eines um seine Gründung verdienten Mannes benannt, wie Karlshafen, es trägt seinen Namen auch nicht von einem weithin sichtbaren menschlichen Bauwerke, wie Neukirchen, sondern es ist einfach nach dem Wasserlaufe genannt, an dem es liegt. Und eben das deutet auf ein hohes Alter hin. Daran kann man sehen, dass Ottrau zu einer Zeit entstanden ist, wo der Mensch und seine Werke noch wenig hervortraten, und wo die urwüchsige Natur mit ihren Bergen und Wäldern, Bächen und Tieren noch den Haupteindruck auf den Menschen machte. Aber noch ein zweiter Umstand spricht für das hohe Alter unseres Ortes. Ottrau war, wie wir später noch genauer erfahren werden, im katholischen Mittelalter der kirchliche Hauptort der weiten Umgegend. Es war der Sitz eines sogenannten Erzpriesters, dessen Aufsichtsbezirk von Salmshausen bis Hersfeld reichte. Die Ottrauer Kirche war die Mutterkirche, d. h. die erste und älteste Kirche dieses ganzen Bezirks. Nun steht aber fest, dass man zu Standorten der ersten christlichen Kirchen und zu Erzpriestersitzen in der Regel Orte von besonders hohem Alter wählte.

Es ist demnach sehr wahrscheinlich, dass da, wo jetzt Ottrau steht, schon um Christi Geburt ein chattisches Dorf stand. Was haben wir uns nun für ein Bild von Land und Leuten dieses alten Ottraus zu machen? Um mit dem Wichtigsten zu beginnen, so war die Gegend damals noch viel waldreicher als jetzt. Gewiss gab es schon von keltischer Zeit her „lichte Platten“, Viehtriften und Ackerland, aber der größte Teil der jetzigen Ottrauer Feldflur war damals noch von Urwald bedeckt. Tragen viele Flurteile doch heute noch Namen, die an den ehemaligen Wald oder seine Rodung erinnern. Solche Namen aus der Ottrauer Gemarkung sind: Walläcker (d. h. Waldäcker), die Lohäcker (d. h. ebenfalls Waldäcker), die Eichenäcker, die Buchenäcker, die lange Birke, der Hundsstrauch, der Pfaffenbusch, der Hahnbalz (d. h. Platz, wo der Auerhahn balzte, mithin ein Waldort), die Röder vor der Dick, die Rottäcker am Berfer Weg, das Bonifatiusrod, die neue (d. h. neugerodete) Wiese. Von Ropperhäuser Flurnamen gehören hierher: der Eller- (d. h. Erlen-)Acker, der Eichacker, die Strauchäcker, die Stöcke und die Stockwiese (von den stehengebliebenen Erdstöcken oder Baumstümpfen), die Rodäcker, die Schlagwiese (die durch das Abschlagen der Bäume entstanden ist).

Diese Namen sagen dem Kenner der Ottrauer und Ropperhäuser Gemarkung, dass da, wo heute der Pflug geht und die Sense schneidet, vor Zeiten der Urwald stand. Zugleich sagen sie uns auch, was für Baumarten in diesem Walde zu finden waren. Die heutzutage vorherrschenden Nadelbäume Fichte und Kiefer begegnen uns in keinem alten Flurnamen und müssen deshalb ehemals selten gewesen sein. Umso häufiger müssen statt ihrer die Laubbäume Eiche und Buche, Birke und Erle vorgekommen sein. Doch fehlte das Nadelholz nicht gänzlich. Der nahe Waldort Ebig (d. h. Eibenwald) bezeugt uns ja, dass hier einst die Eibe, ein jetzt ganz aus der Gegend verschwundener Nadelbaum, heimisch war.

Je waldreicher ein Land ist, umso wasserreicher pflegt es auch zu sein. Daher wird der ehemaligen größeren Waldmasse auch ein größerer Wasserreichtum in der Ottrauer Gegend entsprochen haben. Diese Vermutung wird durch einige besondere Umstände zur Gewissheit. Unser Dorfwasser muss vor Zeiten eine Mühle getrieben haben. Zwar ist die Mühle längst verschwunden, aber dass sie einmal bestanden hat, das bezeugen unwidersprechlich die dicht unter dem Dorfe am Flüsschen vorkommenden Flurnamen Mühlenhöfchen und Mühlenacker. Dann kann es aber dereinst nicht das ärmliche Rinnsal von heute, sondern muss ein stattlicher Bach gewesen sein. Und was von der Otter gilt, gilt auch von der Eßbach, der Hebach und dem durch den sogenannten Grund führenden Wasserlaufe. Während sie jetzt nur nach starken Regengüssen etwas Wasser führen, müssen sie früher unversiegbar gewesen sein. Die beiden ersten Wasserläufe tragen ja die stolze Bezeichnung Bach und über den letzteren muss eine steinerne Brücke geführt haben, da die Umgegend noch heute „zu Steinbrücken“ genannt wird. Neben den fließenden Gewässern fehlte es in der alten Zeit auch nicht an den stehenden oder Sümpfen. Das beweisen die nahen Wiesen- und Waldorte Peel (vgl. Pfuhl), Jägersahl (Ahl gleich Sumpf), rotes Meer, blaue Pfütze, Bruchwiese, Bruchäcker, deren Namen sämtlich auf Sumpf und Morast hinweisen.

Diese wald- und wasserreiche Gegend barg natürlich auch einen großen Wildreichtum. Und in den lassen uns abermals die alten Ortsnamen einen Blick tun. Der Herzberg (im 17. Jahrhundert noch Hirtzbergk) erinnert an den Hirsch als einstigen Bewohner unserer Wälder, Ibra (einst Ebera) an den Eber (das Wildschwein), Berfa an den Bär oder, wie andere meinen, an den Biber, der Urbach bei Neukirchen an den Ur oder Auerochs, die Katzbach bei Olberode an die Wildkatze, Ottrau selbst an den Fischotter, Oberaula (einst Owilaha) an die Eule. Selbstverständlich fehlte auch der Wolf nicht; von den noch jetzt hier vorkommenden Wildarten ganz zu schweigen.

Soviel über die das alte Ottrau umgebende Natur. Wie haben wir uns nun aber Leben und Treiben seiner Bewohner vorzustellen?

Wenn in jener alten Zeit der größte Teil der heutigen Ottrauer Feldflur noch von Urwald bedeckt war, dann können die damaligen Ottrauer nur wenig Ackerbau betrieben haben. Sie werden, wie die meisten Deutschen jener Zeit, im Hauptberuf Hirten und Jäger und nur im Nebenberuf Ackerbauer gewesen sein, und Ottrau mag anfänglich mehr einem Hirtenlager als einem Bauerndorfe geglichen haben. Herdenwirtschaft und Jagd konnte die Bevölkerung Deutschlands aber nur solange ernähren, als sie noch gering an Zahl war und als der etwaige Bevölkerungsüberschuss über den Rhein nach Gallien, dem heutigen Frankreich, auswandern konnte. Als aber die Volkszahl wuchs und die Römer Gallien eroberten und den Rhein zu einer unüberschreitbaren Grenze machten, da waren die deutschen Volksstämme und mit ihnen auch die Bewohner Ottraus genötigt, den Boden ihres Landes stärker auszunutzen, als es bei der Weidewirtschaft und Jagd geschah. Sie mussten nun an die Rodung des Urwaldes gehen und den Ackerbau zu ihrem Hauptberufe machen. Dieser gewaltige und folgenreiche Umschwung im wirtschaftlichen Leben unseres Volkes und Dorfes mag sich ungefähr um Christi Geburt vollzogen haben.

Wie mögen nun die Ottrauer Hirten-Jäger zu Werke gegangen sein, als sie den Urwald und die lichten Stellen in der Umgebung ihres Wohnortes zum Zweck eines gesteigerten und regelmäßigen Ackerbaues aufteilten? Davon erzählt uns die Urkunde, die wir an unserer weder durch Erbteilung noch durch die Verkoppelung veränderten Gemarkung haben. Näher gesagt: Zwei noch jetzt wahrnehmbare Eigentümlichkeiten der ältesten Ottrauer Güter ermöglichen es, dass wir uns ein ungefähres Bild davon machen können.

Welches sind denn die ältesten Güter unseres Dorfes? Dazu gehören einmal das von Schwertzellsche1 und die beiden Merlischen Güter2, deren Urbestandteile vorzeiten zusammen ein einziges Gut bildeten. Und dazu gehören ferner jene 8 Güter, die im 16. Jahrhundert durch die Teilung von 4 doppelt so großen entstanden und die in älteren Akten als die Hufen- oder Fahrgüter streng von den übrigen bäuerlichen Anwesen, den Kodengütern.3 Diese Güter haben als die ältesten Ottraus zu gelten, unter anderem deshalb, weil ihre Stammländereien sämtlich in nächster Nähe des Dorfes liegen.

Und welches sind die besonderen Eigentümlichkeiten dieser ältesten Güter? Einmal ist die Verteilung ihrer Ländereien in der Feldflur beachtenswert. In der Ottrauer Gemarkung fallen uns 12 große Stücke, sogenannte Gewanne, auf: Die Länge, die Bruchäcker, die Ohrensäcker, die Kalkäcker, die Bilzäcker, die Bettäcker, das Steinbrückerfeld, das Höhfeld, die Eichenäcker, die Spitze, der Pfaffenbusch und die Kreuzäcker. Die Ländereien der genannten Güter sind nun so verteilt, dass der Regel nach ein jedes von ihnen in jeder dieser 12 Gewanne einen Streifen Ackerland besitzt. Ähnlich ist es auch um die Verteilung ihrer Wiesen bestellt. Eine andere bemerkenswerte Eigentümlichkeit dieser ältesten Güter ist ihr Größenverhältnis. Damit steht es so, dass zwar das von Schwertzellsche und das vereinigte Merlische Gut ein Übergewicht in dem eben beschriebenen Gewannenfelde haben, die acht Hufen- oder Fahrgüter aber in ungefähr gleichem Maße daran beteiligt sind.

Was lehren uns nun diese Eigentümlichkeiten der ältesten hiesigen Güter über die Maßnahmen, welche die Ottrauer Hirten-Jäger bei Einführung des regelmäßigen Ackerbaues tragen? Sie lehren uns, dass diese Männer zunächst den gesamten zur Urbarmachung bestimmten Grund und Boden in größere Stücke, Gewanne, abteilten, und dass sie dann einem aus ihrer Mitte, ihrem Häuptling, in jeder Gewann einen vorzugsweise großen Ackerstreifen überließen, während alle übrigen Ansiedler in allen Gewannen ungefähr gleichviel Land bekamen. Das war sehr klug getan! Auf diese Weise erhielt nicht der eine lauter guten und der andere lauter schlechten Boden, sondern alle bekamen von allen Bodenarten. Auch hatten nicht die einen das nahe und die anderen das entfernte Land, sondern jeder hatte nähere und entferntere Äcker.

Das durch seine Größe hervorragende Gut des Häuptlings mag man den Herrenhof genannt haben. Die unter sich gleich großen Güter der gewöhnlichen Ansiedler hießen „Hufen“, was ein so großes Maß an Äckern, Wiesen und Gerechtsamen bedeutet, wie ein einzelner Bauer zum „Behuf“ der Ernährung seiner Familie nötig hatte. Die Hufen waren Privateigentum ihrer Besitzer. Die nicht aufgeteilten Waldungen und Tristen blieben Allmende, d. h. gemeinsamer Besitz der Dorfgenossen.

Weitere Vermutungen über die Zeit der Einführung des gesteigerten Ackerbaus dürfen wir nicht wagen. Wir dürfen nicht sagen, die Zahl der Gewanne sei wie heute so auch ursprünglich schon zwölf gewesen. Es ist ebenso gut möglich, ja noch wahrscheinlicher, dass es anfangs weniger waren, und dass man erst nach und nach bei steigenden Bedürfnissen aus der Allmende neue angelegt hat. Wir dürfen auch nicht behaupten, die Zahl der Hufengüter habe, wie noch im 16. Jahrhundert, so auch anfänglich bloß vier betragen. Man bedenke doch das Folgende! Die jetzigen 8 halben Fahrgüter haben an Stammländereien im Durchschnitt jedes etwa 70 Acker Land und Wiesen. Die 4 ungeteilten des 16. Jahrhunderts waren also durchschnittlich je 140 Acker groß. Nun betrug aber die alte deutsche Hufe in der Regel nur 30 Acker. Daher ist vielmehr anzunehmen, dass die Zahl der Ottrauer Hufen ursprünglich größer war, und dass die vier späteren Hufengüter erst durch die Zusammenlegung mehrerer Hufen entstanden sind. Dass die ursprünglichen Besitzverhältnisse im Laufe so vieler Jahrhunderte mancherlei Veränderungen erlitten haben, versteht sich ganz von selbst. Es wird aber auch dadurch bewiesen, dass an den meisten Gewannen jetzt nicht nur die erst 700 Jahre nach Einführung des Ackerbaus gegründete Pfarrei, sondern auch bald dieses, bald jenes Kodengut Anteil haben.4

Das anfangs von Hirten-Jägern und etwa seit Christi Geburt von Ackerbauern bewohnte Ottrau war nun aber nicht bloß die Heimat seiner Bewohner, sondern scheint auch der politische und religiöse Hauptort der ganzen weiten Umgegend gewesen zu sein. Auch dies ist aus der hervorragenden kirchlichen Bedeutung zu erschließen, die Ottrau, wie schon erwähnt, im katholischen Mittelalter gewann. Man wählte es ja zum Standort der ersten christlichen Kirche und zum Sitz eines Erzpriesters. Dazu nahm man aber Orte, die nicht nur auf ein ehrwürdiges Alter zurückblicken konnten, sondern die auch schon in der heidnischen Vorzeit von politischer und religiöser Bedeutung gewesen waren.

Daher behauptet der berühmte hessische Geschichtsforscher Landau, die Bezirke der mittelalterlichen neun Erzpriester des Hessengaues deckten sich mit dessen neun chattischen Hundertschaften (Unterabteilung des Gaues von je 100 bis 120 Familien). Als die fünfte dieser Hundertschaften zählt er die Hundertschaft Ottrau, die er ganz wie den nachmaligen Erzpriesterengel von Salmshausen bis Hersfeld reichen lässt. Er meint, Ottrau sei in weltlicher Beziehung das Hauptdorf dieser großen Hundertschaft gewesen. Ottrau wäre dann der Gerichtsort für dies weite Gebiet gewesen, und sein auf dem größten Gute wohnender Häuptling oder Dorfrichter vermutlich zugleich das Oberhaupt und der oberste Richter der ganzen Hundertschaft.5

„Recht und Religion standen bei unseren heidnischen Vorfahren im engsten Zusammenhang. Wo das Volk zu seinen Beratungen und zur Rechtspflege zusammenkam, da war auch die Stätte, wo es seine Götter verehrte.“ So sagt derselbe Landau. Er meint deshalb, Ottrau sei auch der religiöse Mittelpunkt der Umgegend gewesen, und findet es wahrscheinlich, dass der über dem Dorfe aufsteigende Bechtelsberg, der ja noch jetzt als der Blocksberg der Umgegend gelte, ein geweihter Ort war.6

Damit kämen wir zuguterletzt noch auf das religiöse Leben der urzeitlichen Ottrauer zu sprechen. Sie müssen, wie uns der nahe Bechtelsberg mit seinem Namen und seinen Sagen lehrt, neben den anderen altdeutschen Gottheiten ganz besonders die Göttin Berchta oder Bertha verehrt haben. Bechtelsberg heißt ja nichts anderes als Berchtasberg. Zuweilen zeigte sich die Göttin nach dem Glauben unserer Vorfahren auf der Höhe des Berges; will man dort doch jetzt noch manchmal eine schwarze Gestalt oder eine feingekleidete Jungfrau erblickt haben. Im Allgemeinen aber sollte sie im Innern des Berges wohnen. Den Ein- und Ausgang ihres unterirdischen Schlosses bildete die Hexenkaute, eine trichterförmige Vertiefung auf dem Gipfel. Kunde von ihrem unterirdischen Treiben glaubte man dann und wann auf dem Basaltkopfe der „Rumpelskuppe“ zu empfangen. Hier will man ja noch jetzt zuweilen ein Getöse wie Sturmesheulen und Donnergrollen aus der Tiefe heraufdringen hören.

Weitere Auskunft über Berchta und damit über die religiösen Ansichten der alten Ottrauer gibt uns die deutsche Altertumskunde. Danach war Berchta eine Abart der Frau Holle und bedeutet die Verborgene. Sie war die Führerin der Berchten, d. h. der verborgenen, im Schoße der Erde lebenden Seelen der Verstorbenen. Mit den Seelen verstorbener Kinder fuhr sie durch die Lüfte. Nicht selten fuhr sie auch mit großem Ungestüm dahin und hieß dann die wilde Berchta. Besonders tat sie das in den heiligen zwölf Nächten vom 25. Dezember bis zum Berchtenabend am 6. Januar. In dieser Zeit besuchte sie auch die Spinnstuben und bestrafte die faulen Spinnerinnen. Aber neben dieser düsteren hatte sie auch eine freundliche Seite. Sie war die Beschützerin des Ackerbaues. Darum dachte man sie auf einem Wagen fahrend und Ackergeräte tragend. Sie spendete dem Acker Fruchtbarkeit und ließ das Vieh gedeihen. Wenn der befruchtende Nebel über die Felder zog, dann meinte man Frau Berchta im langen weißen Schleier hinschweben zu sehen.7

Dieser Göttin diente also das Volk aus dem Dorf und Hundertschaft Ottrau auf dem Bechtelsberge. Sie fürchtete man, und auf ihre Hilfe hoffte man. An sie richtete man seine Gebete.

Gebet einer Ottrauer Jungfrau zu Berchta.

Auf deinen Berg stieg ich empor,
Frau Berchta, holde, hehre!
Laß finden mich dein gnädig Ohr
Und meine Bitt‘ gewähre!

Du kennst ja meiner Hände Fleiß
Im Kreis der Spinnerinnen:
Der grüne Plan erglänzt mir weiß
Vom selbstgewebten Linnen.

Manch‘ Opfer bracht‘ mein Vater dir
Im heil‘gen Eichenhaine,
Das schnelle Ross, den starken Stier,
Manch‘ Glas vom Gerstenweine

Auch hast du deine Huld und Gnad
Uns oftmals schon bewiesen:
Du schütztest uns‘rer Äcker Saat
Und ließest reich sie sprießen.

Drum blick‘ auch jetzt mich gnädig an!
Ich bange um das Leben
Held Sigbalds, der mein Herz gewann;
Du wollest ihn umgeben

Mit deinem Schutz im Männerkrieg,
Zu dem er ausgezogen,
Gib seinem Schwerte stolzen Sieg
Und Beute seinem Bogen.

Und wann geendet ist der Streit,
Dann lass ihn heimwärts kehren
Und als sein Weib an seiner Seit‘
Lass walten mich in Ehren. –

Wollst mit Erhörung deine Maid,
Frau Berchta, heut‘ beglücken.
Dann will zum Dank ich allezeit
Den heilgen Hain dir schmücken!